Kapitel 89

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Ich habe schreckliche Angst. Vor dieser Station, vor der Klinik, vor mir und meiner Zukunft. Wenn ich eines Tages entlassen werde, habe ich bis dahin sicherlich auch noch den letzten Rest meiner Sozialkompetenz verlernt. Die Therapiegespräche und gespielt verständnisvollen Blicke hängen mir zum Hals raus; ich möchte frei sein! Befreit von den Mauern, die diese beschissene Klinik umschließen, meiner Familie und meinen Krankheiten. Einfach nur frei.

All das wollte ich herausschreien, doch es gelang mir nicht. Stattdessen saß ich Emily gegenüber in meinem engen Klinikbett, legte mein Kinn auf meinen Knien ab und hätte mich am liebsten wie Jennifer unter der Bettdecke vergraben.

Ich vermisse Sam, ich vermisse sie so sehr. Mit ihr könnte ich einfach reden.

Diese Erkenntnis war nicht neu, und doch haute sie mich in diesem Moment um, als wäre ich von einem Lastwagen umgefahren worden. Schon bedeckten salzige Tränen mein Sichtfeld, bahnten sich ihren Weg über meine Wangen und hinterließen einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge.

"Du bist beneidenswert."

Voller Verwirrung über Emilys Bemerkung musste ich lachen. Meinte sie das ernst? Ich? Beneidenswert? Ein Blick in ihr Gesicht verriet mir, dass sie keinen schlechten Scherz riss. Ihre Augen musterten mich mit einer Art Trauer, die ich mir nicht erklären konnte.

"Wohl eher bemitleidenswert, nicht wahr?", flüsterte ich mehr zu mir selbst und wollte mich gerade wieder hinlegen und aufgeben, als Emily von ihrem Bett aufstand und sich neben mir niederließ, wobei sie penibel auf Körperhaltung achtete. Den Rücken hielt sie stockgerade, die Füße nach vorne und die Oberschenkel parallel zueinander ausgerichtet. Ich kannte dieses Verhalten nur allzu gut.

"Nicht wirklich", sagte Emily und sah zu mir auf. Selbst im Sitzen war sie deutlich kleiner als ich, doch ihre Augen deuteten eine für ihr Alter ungewöhnliche Weisheit an. "Ich habe seit Jahren nicht mehr geweint. Deswegen bist du in meinen Augen beneidenswert. Den Rest kann ich noch nicht einschätzen."

Ihre Sprechweise erinnerte mich an einen Roboter und doch erwärmten ihre Worte für einen kurzen Moment mein Herz. Sie hatte seit mehreren Jahren nicht mehr geweint? Anscheinend konnte sie meine Gedanken erahnen, denn bevor ich zu meiner Frage ansetzte, unterbrach sie mich. Ihre Stimme zitterte trotz des fast schon kindlichen Klanges.

"Asperger."

Oh.

"Und wieso weinst du deswegen nicht?"

Emily löste ihren Zopf und griff nach einer hellgrünen Bürste mit Pferdemuster, um sich damit pedantisch durch die Haare zu fahren. Ihr Blick war ernst, konzentriert, zielgerichtet. So unnahbar sie in diesem Moment auch wirkte, wusste ich, dass hinter der Fassade mehr brodelte und brütete. Das kannte ich ebenfalls von mir, wenn auch in abgeänderter Form.

"Mir erschließt sich das Konzept nicht so ganz. Natürlich bin ich oft frustriert, manchmal sogar traurig, aber nachdem ich die Diagnose erhalten habe, ist meinen Tränen ein Riegel vorgeschoben worden. Ich kann es nicht erklären." Frustriert wandte sie sich ab und starrte an die gegenüberliegende Wand, ohne das getaktete Bürsten zu unterlassen. "Es ist, als ob mir mit der Diagnose gesagt wurde: 'Du bist gestört. Du bist anders. Du kannst, nein, darfst nicht zu uns gehören.' Abgesehen davon habe ich auch noch eine Zwangsstörung, die das alles nicht gerade einfacher macht. Du auch, oder? Ich habe dich beobachtet."

Sie konnte wirklich meine Gedanken lesen.

"Ja, eine Zwangsneurose", erwiderte ich nur und ließ die Worte in der Stille nachhallen. Emily war merkwürdig und doch hatte ich nicht das Gefühl, mich vor ihr verstecken zu müssen. Sie würde mich nicht verraten oder sich bewusst über mich lustig machen.

Asperger. Die Diagnose kannte ich aus der dritten Klasse. Ein neuer Klassenkamerad war uns vorgestellt worden, an seiner Seite eine unbekannte Frau mit dunklem, lockigem Haar, die seine Betreuerin war. Er hatte sich gleich in die letzte Reihe gesetzt und dort leise und bedacht seine Unterrichtsmaterialien hervorgekramt. In den folgenden Monaten war ich immer wieder versucht, ihn anzusprechen, hatte mich jedoch nie überwinden können. Er wurde als komplizierter Fall bekannt, zog sich aus der Klassengemeinschaft zurück, machte Bemerkungen, die auf Außenstehende unbedacht oder feindselig wirken könnten, doch er tat mir Leid. Er war nicht unfreundlich gewesen, sondern missverstanden.

Missverstanden. So wie ich und viele der anderen Patienten, mit denen ich ab heute unter einem Dach lebte.

"Und sonst?", platzte Emily heraus und sah mich auffordernd an. Es schwang etwas Freches in ihrer Stimme mit, das mich zum Lächeln brachte.

"Sonst noch? Depressionen, Angststörungen ... und psychotische Symptome."

Ich hatte das blutbeschmierte Mädchen seit Monaten weder gesehen noch gehört. Mein Körper stand allerdings noch immer unter Hochspannung, wann immer ich ein Flüstern oder Knistern in meiner Umgebung wahrnahm, doch sie war bisher nicht zurückgekehrt. Doch sie würde wiederkommen, das wusste ich in meinem tiefsten Inneren, weshalb ich noch immer mit dem Schatten der Erinnerung an sie lebte.

"Was ist das?"

"Psychotische Symptome?"

"Ja. Was denn sonst?"

Ihre Antwort verunsicherte mich nicht. Immerhin war es nicht ihre Schuld. Sie wollte mir nichts Böses, auch wenn ihre Worte auf Unwissende schnippisch wirken könnten. Ich konnte mit ihrer Art umgehen und das gab mir einen kleinen Funken an Selbstsicherheit.

"Also, psychotische Symptome können ziemlich breit gefächert sein, deswegen ist es schwer, dafür eine ... allgemeine Definition zu finden. Bei mir ist es aber so, dass ich–"

Ausatmen.

Halten.

Einatmen.

Halten.

"Du musst keine Angst vor meiner Reaktion haben. Ich bin schon ein überdimensionierter Dorn im Auge der Gesellschaft, da wirst du nicht viel abnormaler sein."

Ihre Wortwahl war einfach zu skurril.

"Danke", brachte ich zustande, obwohl ich ein Grinsen stark unterdrücken musste.

"War das wirklich hilfreich?", fragte sie unverblümt. "Dann ist das eine Premiere für mich."

Ich nickte. Mehr war nicht nötig.

"Psychotische Symptome zeigen sich in meinem Fall so, dass ich Dinge höre und sehe, die nicht da sind. Also zum Beispiel eine Person."

In ihrem Kopf griffen die Zahnräder aneinander und es begann zu rattern. Ihre Augen senkten sich auf ihren Schoß, und während sie die Augenbrauen fest zusammenzog und tief in ihren Überlegungen versunken schien, ergab sich mir die Chance, nach Jennifer Ausschau zu halten.

Sie hatte sich eng zusammengerollt und krallte sich mit beiden Händen an ihrem Bettlaken fest, die Augen starr ins Leere gerichtet. Jennifer war in einer anderen Welt, einer Welt voller Selbsthass, Verzweiflung und endlosen, dunklen Tunneln. Wie sehr ich auch wünschte, sie aus ihrer traurigen Trance herausholen zu können, so wusste ich doch, dass meine Bemühungen ihr im Moment nicht helfen würden. Sie musste aufwachen, bevor man ihr die Welt zeigen konnte, und da konnte ich nicht einschreiten. Auch wenn mein Gehirn meinen Körper anschrie, sich vor ihr Bett zu knien, ihr Trost zu spenden und sie zu fragen, wie ich ihr helfen konnte, kannte es insgeheim die Antwort.

Es ging ihr beschissen. Und daran konnte eine Fremde wie ich momentan auch nicht viel ändern.

"Ist das nicht eigentlich eine Superkraft?", riss Emily mich aus meinen Beobachtungen. "Dinge zu hören und zu sehen, die anderen verborgen bleiben? Natürlich ist das auch nicht immer schön", gab sie zu und sah mich fragend an, "aber vielleicht hast du einfach nur Augen und Ohren für eine Parallelwelt, die wir normalen Menschen nicht kennen. Und – selbst wenn nicht – finde ich dich deswegen nicht merkwürdig. Höchstens ein bisschen. Und ein bisschen ist noch vollkommen in Ordnung, wie ich finde. Oder?"

Ich lächelte sie an und sie erwiderte es unsicher.

In den nächsten Stunden fand ich zum ersten Mal seit Sams Tod in einen wahrlich erholsamen Schlaf. 

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt