Kapitel 62

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"Äh, hallo. Darf ich reinkommen?"

Wer war das? Mühsam drehte ich mich in meinem Bett um und versuchte, durch meine gereizten und müden Augen die Person an der Zimmertür identifizieren zu können, doch ich erkannte nur Schemen. Die Stimme hörte sich merkwürdig verzerrt an, als befände ich mich unter Wasser, weshalb ich mir auch den Sinn hinter den aneinandergereihten Worten erschließen musste, bevor ich schließlich murmelnd antwortete.

"Ist mir gleich."

Die Person blieb für einige Augenblicke unsicher an der Tür stehen, entschloss sich dann jedoch dazu, die Tür hinter sich zu schließen und langsam auf mich zuzugehen. Erst jetzt konnte ich ein Gesicht ausmachen.

Es war Evelyn.

"Ähm, naja", stammelte sie vor sich hin und blickte immer wieder nervös auf ihre Armbänder, deren bunte Fröhlichkeit mich geradezu anschrie, "ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, warum ich hier bin, aber irgendwie will ich dir das Gefühl geben, dass du nicht alleine bist, verstehst du? Entschuldige, ich bin echt ungelenk in solchen Dingen. Also wenn du meine Gesellschaft doch nicht möchtest, kannst du das einfach sagen. Ich nehme es dir auch nicht übel oder so was in der Art. Äh, wann warst du denn das letzte Mal draußen? Gehst du noch in den Park?"

Ich verstand ihre Bemühungen, mich in ein Gespräch zu verwickeln und eventuell sogar menschliche Emotionen in mir hervorzurufen, doch mit diesem Gesprächsthema hatte sie sich selbst ins Aus geschossen.

"Nach draußen gehe ich schon lange nicht mehr."

Ihre Augen weiteten sich für einen so kurzen Augenblick, dass ich es fast nicht registriert hätte, denn sie versuchte beinahe zwanghaft, nicht zu verkrampfen oder mit dem Weinen zu beginnen. Es tat mir nicht einmal Leid, sie so zu sehen. Oder doch?

Ich wusste es nicht, denn meine Gefühlswelt war mir ein Rätsel. Mal fühlte ich rein gar nichts, dann erlitt ich einen psychischen Zusammenbruch und im nächsten Moment dachte ich still lächelnd und in meinem Bett zusammengekauert an die schönen Momente mit Sam zurück. Jeder dieser Zustände war nur vorübergehend und ich konnte mir nie sicher sein, wie ich mich in den nächsten Minuten fühlen würde. Es war ein Albtraum.

"Oh, das tut mir Leid, schätze ich. Möchtest du vielleicht mit mir zusammen nach draußen gehen? Das würde dir vielleicht gut tun, Scarlett. Bitte lass mir dir irgendwie helfen."

Schon wieder machte sich ein unerklärliches und plötzliches Unwetter an Launen in mir bereit, das sich schlichtweg nicht mehr zurückhalten ließ.

"Um dein Gewissen zu erleichtern?"

In exakt dem Moment, als ich den Satz aussprach, war ich mir bereits mehr als bewusst, dass es falsch und ungerecht war, sie so zu behandeln und mit ihr zu reden. Evelyn trug keine Schuld an dieser Situation, aber dennoch hatte sie sich entschieden, ihre Zeit mit mir zu verbringen, obwohl ich sie vermutlich nur noch mehr nach unten zog, als sie es in ihrem aktuellen, noch immer sehr fragilen Zustand ertragen könnte. Das war unglaublich nett von ihr, doch ich verhielt mich wie ein Miststück und stieß sie auf grausamste Art und Weise von mir.

Ihr Mund öffnete sich, als ihr die Gesichtszüge entglitten, und ich erkannte eine kleine Lücke zwischen ihren vorderen Schneidezähnen, die mir zuvor nie aufgefallen war. Auch ihre blauen Augen wirkten intensiver auf mich als sonst, als sie sich im Licht meiner Nachttischlampe zu mir beugte und überraschend ruhig antwortete.

"Ich werde dir das nicht übel nehmen, denn wenn es mir schlecht geht, rede ich genauso. Sam-", flüsterte sie daraufhin und allein ihren Namen zu hören, bereitete mir physische Schmerzen, "kannte ich zwar um Längen nicht so gut wie du, aber ich habe auch Menschen verloren, die mir wichtig waren und es immer noch sind. Momentan mag alles nur grau und trostlos auf dich erscheinen, aber es wird besser werden. Das verspreche ich dir, obwohl ich weiß, wie abgedroschen das klingt. Es wird besser, aber nicht alles kann gut sein. Solch negative Erfahrungen wie zum Beispiel Sam und ihr Tod", fuhr sie fort und bereitete mir mit diesen drei kleinen Buchstaben eine Gänsehaut, "können dich langfristig stärker machen. Sie hat dich geliebt wie eine Schwester, weißt du das? Immer wenn es dir schlecht ging, hat sie schlechte Witze nur für dich gerissen, sich zum Affen vor dir gemacht und sich dir nicht aufgedrängt; einfach weil sie wusste, was richtig für dich war und wie viel Aufmerksamkeit du in diesen speziellen Situationen brauchtest. Ich kann das aber nicht, denn solche Urinstinkte wirst du bei mir nicht finden. Es kann sein, dass ich weinend zu dir komme und dich um diene Hilfe und Unterstützung anflehe, obwohl du selber genug leidest. Oder ich versuche dir zu helfen und ersticke dich letztendlich mit all meiner Aufmerksamkeit, weil ich einfach nicht weiß, wann genug ist. Von außen hätte man vielleicht denken können, dass Sam und ich genau andersherum wären, nicht wahr? Sie war so unglaublich extrovertiert und oft auch laut, während ich mich immer still und heimlich in der nächstbesten Ecke verkrochen habe. Trotzdem ist sie die bei weitem feinfühligere von uns beiden gewesen. Darum habe ich Sam wirklich sehr beneidet. Nein, ich beneide sie immer noch deswegen."

Sprachlos aufgrund ihres plötzlichen Redeschwalls starrte ich Evelyn für einige Sekunden mit glasigen und verklärten Augen an, bis mein Kopf endlich verarbeiten konnte, was sie mir erzählt hatte. So viel hatte ich sie noch nie sprechen hören.

"Es ist merkwürdig, in der Vergangenheit von ihr zu reden."

Augenblicklich traten Tränen in Evelyns Augen und sie begann hastig zu nicken, bevor sie sich von mir wandte, um nicht zeigen zu müssen, dass sie weinte. Mit einer für mich ungewohnten Seelenruhe streckte ich meine rechte Hand nach ihr aus und berührte ihren Nacken sanft, bis sie sich endlich wieder zu mir drehte und die Tränen von ihren Wangen wischte. Es bedarf keiner Worte ihrerseits, um verständlich zu machen, dass wir beide ähnliches fühlten.

"Auf mich wirkt diese Vergangenheitsform immer so, als wäre sie komplett von der Weltfläche verschwunden. So als hätte sie nichts geleistet und wäre durch ihren Tod einfach aus den Erinnerungen und Gedanken der Menschen um uns herum ausradiert worden wie eine missglückte Bleistiftzeichnung, die einfach so verschwindet. Ist sie aber nicht. Sie ist noch hier und zwar nicht nur in meinem Kopf. Ihre Kuscheltiere, Bilder und Kunstwerke liegen alle in ihrem Schrank oder hängen an diesen Wänden und erzählen von ihr und ihrem Leben. Wer sie war und wer sie sein wollte. Was sie sich erträumte und was ihr gelang. Ich möchte sie nicht als etwas Vergangenes ansehen, denn das ist sie für mich nicht."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt