Kapitel 52

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Aus den Sekunden wurden Minuten.

Aus den Minuten wurden Stunden.

Erst der Ruf zum Essen riss uns aus unseren eigenen Welten und brachte mich dazu, meine eingeschlafenen Gliedmaßen langsam wiederzubeleben. Neben mir regte sich Evelyn noch nicht, doch ihr leises, regelmäßiges Atmen verriet mir, dass ihr Zustand sich endlich stabilisiert hatte.

Was sollte ich nun tun?

Sie einfach mit den blutigen Verbänden, die sich eng um ihre kalkweißen Unterarme legten, zu den anderen gehen lassen?

Oder mich mit ihr auf der Toilette verbarrikadieren, bis wir von Betreuern herausgezerrt wurden und jeder auf der Station öffentlich von Evelyns Zusammenbruch erfuhr?

Ich befand mich in einer teufelskreisähnlichen Zwickmühle, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Statt mich also in Bewegung zu setzen oder einen Plan auszuhecken, starrte ich mit panischem Blick zur Tür und wieder zurück zu Evelyn.

Tür. Evelyn.

Evelyn. Tür.

"Hier fehlen noch zwei", hörte ich Herrn Bennett aus gefühlten Kilometern Entfernung rufen.

Scheisse.

"Scarlett?", ertönte hinter mir die noch immer schwächliche Stimme Evelyns, die sich inzwischen etwas aufrechter hinsetzen konnte und meinen fragenden Blick aus ihren müden, blauen Augen erwiderte.

"Ja?"

Ein letztes Mal holte mein Gegenüber laut Luft und stemmte sich schließlich unter Ächzen und schmerzverzerrten Mienen so weit auf, dass sie sich an die Wand lehnte.

"Stopp!", rief ich laut, besann mich dann jedoch auf unsere momentane Situation. "Sei lieber vorsichtig. Wir wissen nicht, wie stabil du schon bist. Ruh dich lieber noch ein wenig aus", fuhr ich wispernd fort und stütze sie vorsichtig unter ihrer linken Achselhöhle, um zu verhindern, dass Evelyn einen schmerzvollen Sturz erlitt.

"Nein", murmelte sie abwesend und mit zielgerichtetem Blick auf die Tür. "Das fiele doch nur auf und man würde ganz schnell einen Suchtrupp nach mir schicken. Bitte, lass es mich versuchen. So habe ich wenigstens die geringe Chance, dass es ihnen nicht auffällt."

Ihr Blick bettelte mich geradezu um Verständnis und triefte vor trauriger Hoffnung, sodass ich nichts Anderes tun konnte, als unwillig zu nicken. Dann fiel meine Aufmerksamkeit wieder auf ihre verfärbten Verbände und ich erstarrte.

"Evelyn?"

"Ja?"

"Was machen wir damit?", flüsterte ich zitternd und zeigte unsicher auf ihre Unterarme.

Sobald ich nur davon zu sprechen begann, verhärtete sich Evelyns gesamte Körpersprache und sie blinzelte hastig, um die aufkommenden Tränen zu verdrängen. Vorsichtig fuhr sie sich mit der rechten Hand über die Verbände und schien nachzudenken, während ich mit jeder Sekunde ängstlicher wurde. Die Betreuer könnten jede Sekunde hereinstürmen und ein Chaos vorfinden, das sie vermutlich nicht erwartet hätten.

Nervös zupfte ich am Saum meines Pullovers, der mir normalerweise weit über die Handgelenke reichte und somit meine blasse, von bläulichen Adern verzierte Haut verbarg. Zwar trug ich darunter noch ein langärmliges Shirt; da sich das für meinen Geschmack jedoch zu eng an meine Haut schmiegte und meine magere Figur gegen meinen Willen betonte, warf ich mir immer einen weiten Pullover darüber, um jede Vermutung meiner Silhouette im Keim zu ersticken.

Rein theoretisch bräuchte ich ihn nicht.

Doch ihn abzulegen würde Enormes von mir abverlangen.

"Ich weiß nicht, Scarlett. Ich weiß es einfach nicht. Oh Gott, sie werden mich wieder zurück auf die Notfallstation bringen lassen, oh verdammte Scheisse!"

Die Tränen, die in diesem Moment ihre Wangen hinunterflossen und eine glitzernde Spur auf ihrem Weg hinterließen, trafen die Entscheidung für mich.

"Du kannst meinen Pullover nehmen."

Mit einem Ruck drehte Evelyn ihr Gesicht mir zu, sodass ich volle Einsicht auf das eigentliche Ausmaß ihres Zusammenbruchs erhielt. Ihre Augen waren nicht nur blauer als sonst, sondern auch mit vibrierend roten Adern durchzogen und verquollen, während ihre Lippen mittlerweile jeden Glanz verloren hatten und spröde und zerrissen waren.

Ich musste ihr einfach helfen.

"Wirklich? Meinst du das ernst?"

Die Hoffnung brachte das erste Mal seit einer langen Zeit wieder Farbe in ihr Gesicht und verlieh ihr eine beinahe vitale Erscheinung, wenn man von den Blutspritzern auf ihrem beschmutzten T-Shirt absah. Vorsichtig lächelnd bestätigte ich ihren Hoffnungsschimmer und beobachtete sie abwartend, während sie mir ohne Worte, aber mit stummen Dankesreden in ihren Augen ihre Zuneigung aussprach.

"Gut, dann mal los", fuhr ich gehetzt fort und zerstörte damit diesen besonderen Moment. "Du kannst ihn einfach überziehen, er ist extrem weit."

Sobald ich den Pullover abgelegt hatte, traf mich die kalte Luft am gesamten Oberkörper und schien sich an meinem zuvor warmgehaltenen Körper zu laben. Sie war gehässig, schamlos und niederträchtig; schlich sich in jede kleinste Lücke und erfüllte mich innerlich mit einer Kälte, die selbst ich selten erleben musste.

Doch da musste ich jetzt durch, denn Evelyn hatte sich bereits umständlich das Kleidungsstück über den Kopf gezogen und betrachtete sich nun im kleinen, milchigen Spiegel des Toilettenraums, um zu überprüfen, dass nichts Äußerliches mehr ihre innere Schwäche verraten konnte.

"Hallo? Ist jemand da drinnen?"

Das laute Klopfen und der unruhige Tonfall Herrn Bennets ließ uns beide zeitgleich aufschrecken und unsere Herzen schneller schlagen.

Ein letzter ausgetauschter Blick des Vertrauens.

Ein letzter Blick auf ihre verdeckten Unterarme.

Ein letzter tiefer Atemzug.

"Wir sind hier."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt