Kapitel 86

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"Ich verabschiede mich dann mal. Du findest mich aber jederzeit im Betreuerbüro oder irgendwo anders hier auf der Station. Falls du Probleme hast, kannst du gerne zu mir kommen, ja?"

Tommy schloss die Zimmertür hinter sich und ich war allein mit der Stille. Mein Herz klopfte noch schnell durch den Stress meines vorigen Brechvorfalls, meine Knie zitterten, und doch gelang es mir, mich auf mein Bett zu bugsieren, auf dem mein Koffer lag.

Der Koffer, mit dem ich früher in den Familienurlaub geflogen war.

Der Koffer, in dem ich meine Spielzeuge und Kuscheltiere zu verstauen pflegte.

Der Koffer, der für mich das erste Zeichen des Reifeprozesses symbolisiert hatte, als mein elfjähriges Ich ihn während eines Weihnachtsfestes geschenkt bekam. Ich hatte mich so unglaublich groß und erwachsen gefühlt, als er mir überreicht worden war, doch nun saß ich in einer psychiatrischen Einrichtung und suchte in ihm Wechselkleidung, weil ich mich vollgekotzt hatte.

In meiner Erinnerung war er deutlich größer gewesen, doch so war es bei jedem Andenken an meine Vergangenheit. Das 5-Meter-Brett im Schwimmbad, die Schüler im Abschlussjahrgang oder auch Absatzschuhe erschienen mir damals so hoch, so reif, so unerreichbar. Gelangte man jedoch erst einmal auf eine Ebene, erkannte man die Trivialität des Ganzen.

Der Reißverschluss klemmte. Nach ewigwährenden Sekunden des Ruckelns und Zerrens gab ich schließlich auf und öffnete ihn von der anderen Seite, während Tränen des Frusts und der Enttäuschung meinen Blick verschleierten. Nicht einmal mit einem Koffer konnte ich problemlos umgehen; wie sollte ich dann nur diesen Fremden hinter der Tür entgegentreten?

Mir blieb nichts anderes übrig, als dem Moment entgegenzusehen, wenn ich aus diesem Zimmer treten würde, alle Augenpaare des Raums auf mir lägen und geradezu darauf warteten, dass ich etwas Dummes tat. Dass ich stolperte, mich wieder übergab oder noch Schlimmeres. Allein bei dem Gedanken schlugen meine Eingeweide Saltos.

Meine langen, knochigen Finger stachen im Gegensatz zu meiner größtenteils dunklen Kleidung hervor wie Weiß auf Schwarz. Jede Bewegung fühlte sich an, als würde ich einen Fremdkörper steuern, und doch überwand ich mich dazu, mir frische Kleidung herauszusuchen. Viel Auswahl gab es nicht, weshalb ich auf meinen üblichen schwarzen Pullover zurückgriff, der mich in schon so vielen Situationen in der Klinik begleitet hatte. Vielleicht würde mir das vertraute Gefühl mehr Stärke verleihen für das, was mir bevorstand.

Daran zweifelte ich, aber dennoch zog ich mir mein teils nasses und verkrustetes Oberteil über den Kopf und versteckte es unter der dünnen Bettdecke, die ordentlich gefaltet über mein neues Bett gelegt worden war. Falls Emily oder Jennifer zufällig hineinkämen, wollte ich nicht, dass sie von den Überresten meines Zusammenbruchs so angewidert werden würden wie ich.

Die Andenken an mein Versagen lächelten mich an, sobald ich meinen Blick auf meinen Schoß senkte, in dem meine Hände ruhten. Die zweigeteilte Narbe an meinem rechten Arm war überraschend gut verheilt und würde in einigen Jahren vielleicht sogar verblassen, doch mein linker Arm sah aus wie ein Schlachtfeld. Ich hatte auf der rechten Seite nicht tief genug geschnitten, auf der linken aber dafür umso mehr. Nahe meiner Ellenbeuge war die Wunde so tief gewesen, dass man durch das dünne Narbengewebe ein dunkelrotes, beinahe violettes Pulsieren wahrnehmen konnte, wenn man sich konzentrierte. Es war wie ein Zeichen, dass mich immer und überall daran erinnerte, dass ich am Leben war.

Auf einmal brach das im Frühwinter so spärliche Sonnenlicht ins Zimmer und versetzte den gesamten Raum in Helligkeit. Meine Narben schimmerten im Licht, schienen geradezu zu irisieren. Das dunkle Violett verwandelte sich in ein sanftes Hellrot und mein linker Arm sah nicht mehr aus wie ein Kriegsschauplatz, sondern ein Zebra mit Streifen in allen Farben des Regenbogens.

Ich war ein unglückliches Narbenzebra, das einen Selbstmordversuch überlebt hatte, der auch hätte tödlich enden können. Sollte ich dafür dankbar sein oder mein Schicksal verfluchen?

Hastig zog ich mir den Pullover über den Kopf und wechselte auch den Rest meiner Kleidung. Die Gedanken an meine Ankunft in der Station bereiteten mir noch immer ein kribbelndes Übelkeitsgefühl, doch ich konnte es nicht weiter hinauszögern. Ich würde bald in den Gruppenraum voller Fremder gehen müssen. Obwohl ich auf die Tür zuging, wäre ich am liebsten aus dem Fenster gesprungen und weggerannt, doch ich war gefangen. Gefangen und ohne Alternative.

Die Zimmertür war schwerer, als ich es von Jupiter gewohnt war. Gehörte das zu den Sicherheitsmaßnahmen, die hier angeblich zu unserem Schutz getroffen waren? Falls die Türen dafür gemacht waren, die Patienten in ihren Zimmern einzusperren, funktionierte es in meinem Fall, denn sie bewegte sich nur wenige Zentimeter pro Sekunde, auch wenn ich mich mit meinem vollen Körpergewicht gegen sie stemmte. Ich merkte erst, dass ich schwer atmete, als ich aufsah und bemerkte, dass mich drei Augenpaare beobachteten. Tommy und Esther hatten sich in das Betreuerbüro zurückgezogen, auch wenn von den anderen beiden Betreuern, die Emma in den Time-Out-Raum gebracht hatten, noch jede Spur fehlte. Er schien Patientendokumente zu lesen, während Esther vor dem Computerbildschirm saß und Daten übertrug. Sein warmes Lächeln gab mir ein wenig Mut, auch wenn die Narben in seinem Gesicht etwas waren, an das ich mich erst gewöhnen musste, doch die anderen beiden Personen, die mich betrachteten, waren mir fremd.

Ein Junge hatte seinen Blick auf mich gerichtet. Er wirkte deutlich jünger als die restlichen Patienten, hatte langes, dunkles Haar und war von einer schmalen Statur, die ihm etwas Kindliches verlieh. Wenn Blicke jedoch töten könnten, wäre ich auf der Stelle pulverisiert worden. Hatte ich ihm auf die Schuhe gebrochen? Warum sah er mich an und verzog sein Gesicht, als wäre ich schuld an allem Bösen in der Welt, das ihm je widerfahren war? Ich wollte es nicht wissen und wandte meine Aufmerksamkeit rasch von ihm ab, auch wenn mir sein zynisch verzerrtes Gesicht nicht aus dem Kopf gehen wollte.

Ganz anders verhielt es sich mit dem Mädchen, das mir seine Aufmerksamkeit widmete. Sie lächelte zwar nicht oder gab mir irgendein Anzeichen, das ihre Einstellung mir gegenüber verraten könnte, doch allein die Tatsache, dass sie mich anscheinend nicht augenblicklich umbringen wollte, erleichterte mich enorm und nahm schweres Gewicht von meinem Brustkorb.

Die restliche Gruppe hatte sich verkleinert, seit ich angekommen war. Zwei Mädchen legten gemeinsam und in absoluter Stille ein Puzzle zusammen, womit sie die einzigen waren, die sich mit irgendetwas beschäftigten. Das konnte ich den Patienten nicht verübeln; vermutlich hatte es nach meinem Willkommensgruß nicht sonderlich gut gerochen. Der Gedanke daran trieb mir die Farbe ins Gesicht. Schlimmer hätte es nun wirklich nicht kommen können.

Unschlüssig stand ich mitten im Raum und wägte meine Möglichkeiten ab. Sollte ich mich zu ihnen gesellen? Oder gleich wieder in mein Zimmer verschwinden? Vielleicht könnte ich mit Esther und Tommy reden? Bei der unangenehmen Stille, die im Raum vorherrschte, würde jedoch jeder bei unserem Gespräch mithören können.

Da fiel mein Blick auf den Jungen am Esstisch, der mit Emma gezeichnet hatte. Sein sanddornfarbener Lockenkopf strahlte durch die eintretenden Sonnenstrahlen so hell wie ein Textmarker. Ob die Farbe wohl natürlich war? Meine Überlegungen wurden jedoch unterbrochen, als der Junge seinen Kopf hob und mir direkt ins Gesicht sah. Seine Augen waren leicht zusammengekniffen, um mich entgegen des Sonnenlichts ausmachen zu können, doch sein Mund hatte sich zu einem überraschend offenen und unbedarften Lächeln verzogen.

"Möchtest du dich setzen?"

Ich nickte.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt