Kapitel 16

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»Deine Therapiestunde steht an, Scarlett!«

Herr Olsens Ruf tönte über die gesamte Station, woraufhin ich aufgeschreckt zusammenzuckte und meine verschwitzten Hände ein letztes Mal an der Bettdecke abwischte. Mein Oberteil musste ich bereits zweimal wechseln und der Schüttelfrost, der mich immer wieder überkommen war, ebbte einfach nicht ab.

Meine Knie gaben bei meinen ersten beiden Versuchen, mich vom Bett aufzurichten, nach und knickten sofort ein. Am gesamten Körper zitternd hievte ich mich nach oben, indem ich meine Oberarme am Bettrand abstützte und meine restlich verbliebene Kraft aufwand, um mich aufrichten zu können.

»Hallo? Ist alles in Ordnung da drin?«

»Ja, alles gut soweit«, erwiderte ich mit leiser, zittriger Stimme, die bei jedem weiteren Laut zu brechen drohte.

»Dann ist ja gut. Kommst du jetzt? Ich würde dich das erste Mal gerne zu Frau Hendel begleiten, damit du den Weg auch sicher findest.«

Obwohl ich mir nahezu sicher war, dass es eher eine Sicherheitsvorkehrung gegen einen Fluchtversuch meinerseits war, dankte ich Herr Olsen trotzdem innerlich für sein Verständnis. Schon den gesamten Vormittag, der sich zum bislang schwersten meines Klinikaufenthalts entwickelte, verhielt er sich mir gegenüber äußerst freundlich und aufmerksam. Den starken Gegensatz dazu bildete Frau Foxworth, die heute leider wieder Dienst hatte und jeden Patienten auf der Station terrorisierte. Es schien ihr sogar eine gewisse Freude zu bereiten.

Langsam schlurfte ich zur Tür, öffnete diese und kniff die Augen schmerzerfüllt zusammen, als mir zum wiederholten Male an diesem Tage die Sonne, die durch die Deckenfenster schien und mich mit ihrem hellen Schein blendete, fast schon schadenfroh ins Gesicht strahlte.

Meinen Kopf gefüllt mit Gedanken an mein Bett und die Dunkelheit meines Zimmers, die ich bereits jetzt vermisste, folgte ich Herrn Olsen durch das Klinikgebäude, bis wir bei Frau Hendels Büro ankamen. Sie erwartete mich bereits und bat mich in ihr Büro, ohne einen Blick an Herrn Olsen zu verlieren. Dort angekommen wies sie mir ohne große Begrüßungen oder Einleitungen einen Stuhl zu und die Therapie begann.

»Also Scarlett, ich habe das Vorgehen entwickelt, bei jeder ersten Therapiestunde eine Art Zeitstrahl des Lebens, das der Patient bereits durchlebt hat, zu verbildlichen.«

Sie stand auf und nahm eine Box aus einem offen stehenden Schrank hinaus, der direkt neben der Tür und sich somit außerhalb meines Sichtfeldes befand. Die Nervosität, die mich überkam, als ich die Gesamtsituation nicht mehr überblicken konnte, war nicht zu überdecken und ich drehte meinen Oberkörper, um die Therapeutin besser im Blick haben zu können.
Diese beobachtete mein Verhalten und murmelte nur ein einziges Wort.

»Zwangshandlungen.«

Peinlich berührt drehte ich mich wieder um und war darauf bedacht, nichts zu tun, was ihren bestehenden Verdacht verhärten könnte. Auf meinem Krankenschein waren schon einige Diagnosen aufgelistet; ich brauchte nicht noch eine weitere.

»Dann legen wir mal los. Siehst du die hier?« Sie öffnete die Box und nahm einen langen Faden sowie einige Plastikblumen heraus. »Der Faden steht für dein Leben und die Blumen für glückliche Momente.« Erneut griff Frau Hendel in die Box und holte kleine Kiesel sowie Steine aus ihr heraus. »Die Steine stehen für Hindernisse oder Schwierigkeiten, die du in deinem Leben bereits bewältigen musstest. Bedeutende Momente, die ausschlaggebend für dein jetziges Verhalten sein könnten.«

Die blonde Frau kniete sich auf den Boden und breitete den Faden vor mir aus. Am linken Ende deponierte sie eine große, gelbe Blume.

»Deine Geburt, Scarlett. Deine Familienmitglieder waren so stolz. Du hast einen großen Bruder, nicht wahr?« Ich nickte. »Er war sicherlich aufgeregt, seine kleine Schwester endlich zu treffen. Deine Mutter war bestimmt erschöpft, aber dennoch überglücklich.«

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt