Kapitel 25

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"Okay."

Sams Augen weiteten sich bei diesem simplen Wort und keine Sekunde später fiel sie mir um den Hals.

"Mensch du, das wird echt super mit uns beiden", begann sie, unterbrach sie jedoch, als sie meinen beklemmten Gesichtsausdruck bemerkte. "Sorry, komm' ich dir zu nah? Kein Problem, bin schon wieder weg."

Mit diesen Worten rutschte sie neben mich auf die Bettkante und brachte so etwas Abstand zwischen uns. Nach einigen Momenten der andauernden Stille wurde sie immer unruhiger und schien etwas loswerden zu wollen. Auf meinen fragenden Blick hin brach sie schließlich ihr Schweigen.

"Weißt du, ich dachte, wir könnten uns vielleicht 'n bisschen näher kennenlernen; jetzt, wo wir sozusagen Mitbewohner sind. Wäre bestimmt ganz nett, was über den anderen zu wissen."

"Okay."

"Übrigens musst du nicht immer nur 'okay' sagen. Du kannst ruhig mehr reden, ich lach' auch nich', wenn du stammelst. Hatte ich früher auch, aber das is' jetzt weggeblasen. Pustekuchen. Merkt man glaub' ich auch, oder?"

Ich beantwortete ihre Frage mit einem Nicken, ging aber nicht sofort auf ihre indirekte Aufforderung ein. Was, wenn ich etwas Dummes sagen würde? Oder den Faden verlöre? Das Risiko konnte ich einfach nicht eingehen und blieb daher vorerst bei meinem alten Verhaltensmuster.

"Muss ja auch nich' sofort passieren, nich' wahr? Wenn du willst, erzähl' ich dir was über meine ach so interessante Person."

"Okay."

"Versuch' was anderes als 'okay'."

Über ihre Aufheiterungsversuche musste ich unwillkürlich lächeln.

"Mensch, sie kann ja ihre Mundwinkel bewegen! Hätt' ich nicht gedacht", rief Sam kichernd und lachte erneut laut auf. Ihr Lachen war glockenklar und hell, fast schon ansteckend, doch dazu fühlte ich mich schlichtweg noch nicht bereit. Ich kannte dieses Mädchen ja noch kaum.

Als sie sich nach einigen hechelnden Atemzügen wieder beruhigt hatte und mich weiterhin erwartend ansah, wurde ich langsam unruhig. Hatte ich etwas im Gesicht?

"Also? 'N anderes Wort für 'okay'?"

Oh. Sie hatte es also ernst gemeint.

"Vielleicht ... in Ordnung?"

"Wieso 'vielleicht'?"

"Dann ohne 'vielleicht'?"

"Und ohne das Fragezeichen. Das zeugt nur von Unsicherheit."

"Okay."

"Wie bitte?"

"In Ordnung, meine ich."

"Schon besser", wieder grinst sie mich überglücklich an, "Nimm' von nun an nie wieder das böse O-Wort in den Mund, ja?"

"Gut."

"Sehr schön. Siehst du, das wird noch was mit uns beiden. Wie auch immer, ich fange am besten mal an zu erzählen. Ich bin siebzehn und werde im August volljährig. Früher bin ich gerne mit dem Skateboard rumgefahren, aber das mach' ich schon richtig lange nich' mehr. Heutzutage rede ich einfach gerne, wie man merkt. Ist fast schon meine Lebensaufgabe, denn was anderes kann ich nich' so wirklich. Keine besonderen Talente, in der Schule auch nicht überdurchschnittlich gut; alles in allem könnte man sagen, dass ich im Gesamteindruck einfach durch das Gitter rutsche und nich' auffalle, bis ich meine Fresse aufreiße. Sorry für den Ausdruck, rutscht manchmal einfach mit raus. Du wirkst nicht wie jemand, der besonders viel flucht, oder?"

"Nein, nicht wirklich."

"Wieso?"

"Ich denke es mir."

Sam richtete sich auf und drehte sich mit dem Oberkörper nun vollends zu mir. Dieser Punkt schien ihr Interesse geweckt zu haben.

"Wie machste das?"

"Naja, anstatt meine negativen Gedanken durch Worte in die Welt zu lassen, bändige ich sie lieber unter meiner Zunge."

Sams Hundeaugen wurden immer fordernder.

"Jetzt bist du dran mit Geschichtenerzählen. Leg los, Letty."

"Letty? Das klingt wie das englische Wort für Salat."

"Du siehst auch aus, als würdest du nur Salat essen. Passt doch. Aber jetzt lenk' nicht vom Thema ab, Letty."

Sie betonte meinen neuen Spitznamen besonders stark, was mich mal wieder zum Lächeln brachte. So ungewohnt diese neue Situation auch wahr, unwohl fühlte ich mich mittlerweile nicht mehr, also wagte ich den Schritt und begann zu sprechen.

"Wenn man negative, aber ehrliche Worte an negative Menschen richtet, geht das nicht wie in der Mathematik. Minus und Minus ergibt kein Plus, sondern verdoppelt das bereits bestehende Schlechte nur noch. So entstehen dann Missverständnisse und laute Diskussionen, die mir psychisch und physisch wehtun. Daher habe ich nach einigen solch verbaler Aufeinandertreffen die Erfahrung gemacht, dass es für jemanden wie mich schlauer ist, einfach den Mund zu halten und es über mich ergehen zu lassen."

"Was meinst du mit 'jemanden wie mich'?"

"Die Schwachen. Sobald man als von Natur aus Unterlegener versucht, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen, erhält man die doppelte Abreibung. So war es jedenfalls bei mir."

Ich redete viel zu viel.

Ich öffnete mich viel zu viel.

"Du musst keine Angst vorm Reden haben. Weißte Letty, von jetzt kannst du zu mir kommen, wenn du von dir aus mal reden möchtest. Ansonsten werde ich dich vollquatschen wie ein Papagei, nur damit die Rollenverteilung bei uns schon mal im Voraus geklärt ist. Warte mal, wie viel Uhr is' denn eigentlich?"

"Fünf nach-"

"Au scheisse, ich hätte um Viertel vor Musiktherapie gehabt! Sollte mich wahrscheinlich mal auf den Weg dorthin machen, nich' wahr? Es war toll, mal mit dir zu reden", quasselte Sam, während sie auf meine Zimmertür zuging und diese öffnete. Bevor sie sich allerdings verabschiedete, sah sie sich kurz im Gruppenraum um und steckte ihren braunen Kurzhaarschopf erneut in mein Zimmer. "Übrigens schnarche ich wirklich ganz fürchterlich, aber jetzt isses zu spät, um 'nen Rückzieher zu machen. Du hast mich wohl oder übel am Hals."

Mit diesen Worten winkte sie mir noch ein letztes Mal zu, bevor die Zimmertür klackend ins Schloss fiel.

Sobald ich allein war, konnte ich das breite Lächeln nicht mehr unterdrücken, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, und schon jetzt fühlte ich ein merkwürdig warmes Gefühl in mir hochsteigen.

Fühlte sich so Freundschaft an?

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