Kapitel 72

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Meine zurückhaltenden Schritte hallten den gesamten Flur entlang, als ich mich auf den Weg zu Frau Hendels Büro machte. Herr Olsen merkte, wie unsicher ich war, doch er konnte momentan ebenfalls nicht mehr tun als mir aufmunternd zuzulächeln, was ich nur widerstrebend erwiderte. Welche Neuigkeiten und Ankündigungen würden mich in Frau Hendels Büro erwarten? Würde ich nun doch auf die Intensivstation verlegt werden?

Auf meinem Weg kamen mir immer wieder vereinzelt Menschen entgegen, doch ich konnte ihre Gesichter nicht wahrnehmen. Es fühlte sich an, als wäre ich in einer dumpfen und grauen Welt gefangen, während mein Inneres schrie und sich zu wehren versuchte, letztendlich jedoch kläglich versagte. Meine beiden Hände klammerten sich verkrampft am Saum meines Pullovers fest, doch ich schwitzte vor Nervosität so sehr, dass ich immer wieder abrutschte. Dieser Zustand änderte sich auch in den nächsten Minuten nicht, die ich damit verbrachte, wie betäubt durch die Gänge der Klinik zu trotten. Ich sah die Blicke der Ärzte und anderen Patienten zwar nicht, doch ich fühlte sie wie Stiche in meinem Rücken.

Egal. Jetzt war alles egal.

Frau Hendel und ein Therapiegespräch an einem sonst freien Sonntag konnten schlichtweg nichts Gutes verheißen, dessen war ich mir bewusst. Viel zu schnell erblickte ich die hellblaue Tür am Ende des Flurs, doch um nicht komplett die Fassung zu verlieren, nahm ich einen tiefen Atemzug und überwand die wenigen Meter, die noch zwischen mir und ihr lagen.

Ich wurde bereits erwartet.

Frau Hendel begrüßte mich knapp und wies mir meinen üblichen Platz zu, den ich mit zitterndem Kiefer einnahm. Gleichzeitig war ich darauf bedacht, jede ihrer Bewegungen aufzugreifen, um keine in ihnen versteckte Botschaft zu verpassen oder etwas Bedeutendes zu übersehen. Bevor sie sich mir gegenüber niederließ, raffte sie ihren dunkelblauen Rock und sah mich prüfend und intensiv an.

Hatte ich etwas im Gesicht? Unauffällig drehte ich mich zum Fenster, das mein blasses Gesicht widerspiegelte. Außer meinen müden Augen und krampfhaft zusammengepressten, blutleeren Lippen gab es nichts, das sonderliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Mittlerweile hatte Frau Hendel zu sprechen begonnen, doch da sie nur mit ihren üblichen Floskeln um sich warf und nichts Bedeutendes zu sagen hatte, schwieg ich wie üblich und ließ es über mich ergehen. Jede Sekunde spannte mich mehr und mehr auf die Folter.

Endlich schien Frau Hendel mit ihrer Einleitungsrede zu einem Ende zu kommen, weshalb ich mein Gesicht ihr wieder zuwandte und jede ihrer Gesichtszüge analysierte. Was spielte sich in ihrem Kopf ab? War sie dabei zu überlegen, wie sie mir welche Neuigkeiten am besten unterbreiten konnte?

"Du hast dich sicherlich bereits gewundert, warum ich dich ausgerechnet an einem Sonntag zu mir gerufen habe", begann sie zögernd und rang sichtlich mit ihren Worten. "Das ist sehr ungewöhnlich, ich weiß, doch unser Treffen hat gleich mehrere Gründe und da ich heute etwas im Büro abholen musste und dadurch so oder so hierher gefahren wäre, wollte ich diese Angelegenheiten gleich mit dir absprechen, anstatt es noch länger zu verzögern."

Gleich mehrere Angelegenheiten. Schweigend verdaute ich diese Nachricht und erwiderte Frau Hendels abwartenden Blick, doch da ich nichts einzuwenden hatte, fuhr sie fort.

"Nun gut, dann beginnen wir eben gleich. Neben deinen Therapiestunden kommen auch deine Eltern regelmäßig zu mir, damit ich mir aus den verschiedenen Sichtwinkeln ein umfassenderes Bild von eurer gesamten Familiensituation machen kann. Besonders während der letzten Elterntermine, aber auch deinen Stunden bei mir ist mir aufgefallen, wie sehr der Austausch zwischen dir und deiner Familie fehlt. Daher habe ich mich mit einigen Kollegen, die unter anderem auf den anderen Stationen dieser Einrichtung arbeiten, abgesprochen und wir sind einstimmig zu dem Ergebnis bekommen, dass es in deinem Interesse empfehlenswert wäre, wieder regelmäßig Kontakt zu deiner Familie aufzunehmen."

Meine Eingeweide fühlten sich an, als würden sie erfrieren, und mein Herz begann schneller denn je zu pochen. Regelmäßiger Kontakt zu meiner Familie war genau das, was mich noch eher von einer Heilung abhielt. Genau das sollte jedoch nun mein Wundermittel sein?

Auf Frau Hendels erwartungsvolles Gesicht erwiderte ich nichts als einen leeren Blick. Diese innere Veränderung schien sie zu bemerken.

"Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?"

Als ob ein Glas Wasser mir jetzt helfen könnte.

"Nein, ich möchte nichts."

Vollkommen in meinem Geist verloren versuchte ich, mir die Gesichter meiner Familie vorzustellen, wenn ich erneut auf sie träfe. Es war, als sähe ich in die Gesichter fremder Menschen.

"Da heute Sonntag ist und die meisten deiner Mitbewohner bei ihren Familien auf Wochenendbesuch sind, wie du sicherlich gemerkt hast, dachte ich mir, dass deine Familie dich bereits heute besuchen könnte."

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

"Sind sie schon auf dem Weg?", erwiderte ich heiser und schluckte schwer.

Alles um mich herum fühlte sich taub und unecht an, nur in mir pochte und rumorte es, bis sich ein Gefühl der Übelkeit breitmachte und alles andere lahmlegte. Sobald ich meinen Blick hob, begann Frau Hendel zu nicken und redete bereits weiter in einem Schwall, der geradezu auf mich einzuprasseln drohte.

"Das war nur einer der Punkte, die ich heute ansprechen wollte. Wir, und damit meine ich mich und deine Eltern, haben schon länger darüber diskutiert, ob ein Schulwechsel nach deiner Entlassung aus der Klinik das Richtige wäre. Nach den Sommerferien stünde für dich das vorletzte Schuljahr vor dem Abschluss an, der mit reichlich Stress verbunden ist. Daher gibt es zwei Möglichkeiten. Du könntest erstens auf eine andere Schule wechseln und oder eine Förderschule besuchen, da du im letzten Jahrgang kaum am Unterricht teilgenommen und daher kein Zeugnis erhalten hast."

Es würde in sozialer Hinsicht keinen Unterschied machen, auf welche Schule ich ginge, das wusste ich genau. Unter Gleichaltrigen kam ich nur sehr schwer zurecht, da würde auch ein Schulwechsel nichts bewirken. Frau Hendels Vorschlag kam mir wie ein verzweifelter Versuch vor, da sie mittlerweile genau wissen sollte, wie es um mein Sozialverhalten stand.

Langsam kündigte sich ein alter Feind an. Die Panik. Aus meinen Eingeweiden kämpfte sie sich meine Luftröhre entlang, bis sie schließlich in meinem Kopf angelangte.

"Ich muss hier raus", murmelte ich zittrig und stand schwankend von meinem Stuhl auf, woraufhin ich hastig nach Halt an einer nahestehenden Kommode suchte.

"In Ordnung, Scarlett. Ich wollte dich damit auch nicht überfallen-"

"Aber genau das haben Sie getan", unterbrach ich sie mit unterdrückter Wut in der Stimme und kämpfte mir meinen Weg zur Tür.

Das wurde mir alles zu viel. Ich musste raus aus diesem Büro.

"Dann treffen wir uns am Dienstag zu einem weiteren Gespräch und du berichtest mir von dem Treffen mit deinen Eltern, ja? Sie werden voraussichtlich direkt zu deiner Station kommen, also musst du nicht irgendwo auf sie warten. Zudem möchte ich, dass du das mit dem Schulwechsel noch einmal gründlich überdenkst. In zwei Tagen sprechen wir darüber auch noch-"

"Auf Wiedersehen, Frau Hendel", unterband ich ihren Redeschwall, öffnete die Bürotür und schlug sie wenige Sekunden später hinter mir zu.

Abgesehen von meinem röchelnden Atmen war es endlich still. Genau das, was ich gebraucht hatte.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt