Kapitel 100

3.7K 409 381
                                    

Am Morgen fühlte sich die vergangene Nacht wie ein Traum an. Nur das auf mein Gesicht getackerte Lächeln und einige knisternde Tüten an Süßigkeiten waren der Beweis dafür, dass Flint mich tatsächlich besucht und sich verabschiedet hatte. Die letzten Worte waren mir schwerer gefallen als gedacht, aber er hatte einen Ausdruck in seinen Augen gehabt, der mir sagte, dass wir uns nicht das letzte Mal gesehen hatten. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber es war ein kleiner Funken Hoffnung, an den ich mich mit all meiner verbliebenen Kraft klammerte.

Ich war früher als nötig aufgewacht, auch wenn ich erst vor zwei Stunden eingeschlafen war. In mir war eine Unruhe, die ich nicht abschütteln konnte, und so überwand ich mich und blätterte weiter durch das Fotoalbum, das Nathalie mir geschenkt hatte. Von Geburtstagen bis hin zu Familienfesten oder vollkommen privaten Momenten in den eigenen vier Wänden hatte sie eine bunte Mischung zusammengestellt. Auf jedem Foto war ich entweder mit einem breiten Lachen oder einem schelmischen Kichern zu sehen. Es war dieses Mädchen, das meine Mutter so sehr vermisste – mit Schalk im Nacken und einem zahnlosen Grinsen. Irgendwo war es ja verständlich, doch sie würde lernen müssen, mit ihrer fast erwachsenen Tochter ebenfalls umgehen zu können, wenn sie sich tatsächlich engeren Kontakt wünschte, so wie sie es bei unserem Treffen gemeint hatte. Genauso wie ich sie kennenlernen und verstehen lernen musste.

Eines fiel mir allerdings erst auf, als ich die letzte Seite der Sammlung aufschlug: Auf keinem der Fotografien waren mein Vater oder Großvater Christopher abgebildet. Bei einem Bild von meinem vierten Geburtstag hatte sie die beiden sogar abgeschnitten; nur ein Arm meines Vaters war zu sehen.

Darüber durfte ich gerade nicht nachdenken, sonst würde ich noch vollkommen verrückt werden. Ich müsste meine Mutter darauf ansprechen, falls sie mich noch einmal besuchen kam.

Meine innere Unruhe hatte sich noch immer nicht gelegt. So gerne wäre ich noch liegen geblieben, aber meine Beine schrien geradezu nach Bewegung. Ich würde einen Betreuer fragen müssen, ob ich mir vor dem Frühstück noch kurz auf dem Innenhof die Beine vertreten könnte. Hoffentlich hatte heute nicht Chester Dienst.

Gerade hatte ich mich an die Bettkante gesetzt und wollte aufstehen, da fiel ein Strauß an gelben und rosafarbenen Blumen und Sträuchern unter der Bettdecke hervor und landete auf dem Boden. Nanu?

Ich schlug die Bettdecke zurück und mein Blick fiel auf zwei gefaltete Zettel, die in die Ritze zwischen Matratze und Bettende gerutscht waren. Hatte ich gestern Zeichenpapier auf meinem Bett vergessen? Doch meinen Überlegungen wurde ein Ende gesetzt, als ich das Papier auseinanderfaltete und den ersten Satz in krakeliger Handschrift las.

Na du? Hast du mich schon vermisst?

Es war Flint, ohne Frage. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Wann hatte er diesen Brief denn an mein Bettende gelegt? Er musste sich schon wieder hineingeschlichen haben. Aber wie? Die Nachtwächter hatten sicherlich nicht die ganze Zeit mit den vier Jungs zu tun gehabt.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dir nicht alles gesagt zu haben, was hätte gesagt werden sollen. Verdammt idiotisch, wenn man bedenkt, was ich alles auf mich genommen habe, um dich auf dieses ulkige Dach zu entführen. Aber so etwas kann auch den Besten passieren, und deshalb werde ich diesen Brief samt Anhängsel wahrscheinlich der netten Betreuerin an deiner Station geben. Esther heißt sie. Und da ich mir sicher bin, dass Esther diesen Brief überprüfen wird: Auch Ihnen wünsche ich einen guten Tag. Bitte fragen Sie Scarlett nicht darüber aus, wie und wo und wann wir miteinander gesprochen haben. Löschen Sie die Info aus Ihrem Gedächtnis, als wären sie geblitzdingst worden. Bitte. Ich finde Ihre Frisur übrigens wundervoll, steht Ihnen ganz ausgezeichnet.

Ich musste grinsen. So wie ich Esther kannte und sie mich, würde sie hoffentlich ein Auge zudrücken und uns passieren lassen. Es war mir nichts geschehen, also müsste sie es doch nicht melden, oder? Aber allein die Tatsache, dass der Brief es an mein Bettende geschafft hatte, verriet mir ihre Entscheidung.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt