Kapitel 18

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Weiße Haut. 

Wo auch immer ich meinen Körper begutachtete, sah ich weiße Haut. Die einzige Abwechslung in dieser tristen Unität stellten die dunkelvioletten Narben auf meinen Unterarmen dar, die im Gegensatz zum hell gefliesten Duschraum noch deutlicher hervortraten. Durch den großen Spiegel, der sich die gesamte Wand entlang ausbreitete, bekam ich eine Möglichkeit, mich während des Haarbürstens in diesem ungemütlichen Raum umzusehen. Gegenüber der breiten Tür war eine kleine Wanne, die aufgrund der Staubschicht, die auf ihrer Oberfläche ruhte, vermutlich kaum genutzt wurde. Neben ihr war eine lange Trennwand, die bis in die Mitte des Raumes hineinragte und dem Eintretenden somit die freie Sicht auf den Duschbereich erschwerte. Manche mochten dies als erleichternd empfinden, doch mir bereitete die dadurch kommende Unfähigkeit, den Überblick über den gesamten Raum zu behalten, große Furcht.

Nun trennte mich nur noch ein gelblich angelaufener und anscheinend schimmelbefallener Plastikvorhang von der Dusche, den ich mit gespreizten Fingern vorsichtig zur Seit schob und mich durch die so entstehende schmale Lücke zwängte. Mein Versuch, ihn nicht mit meinem restlichen Körper zu berühren, scheiterte jedoch, als ich mich umdrehte und mein linkes Knie den Vorhang strich. Das klebrige Gefühl, das ich bei dieser Berührung verspürte, sendete kalte Schauer des Ekels durch meinen gesamten Körper und bereitete mir Gänsehaut.

Darauf bedacht, nun wirklich nichts mehr anzufassen, bewegte ich meine Hand vorsichtig auf den Duschhahn zu, der ebenfalls angelaufen und zusätzlich von Rost befallen war. Allein die Kraft, die ich aufwand, um die Dusche anzuschalten, stellte einen ungemeinen Kraftakt für mich dar. Außerdem stand ich nun schon seit mehreren Minuten, was mein Kreislauf nicht gewohnt war.

Mir drohte ein Zusammenbruch.

Alle Symptome ignorierend stellte ich mich unter den lauwarmen Wasserstrahl und ließ ihn auf mich herunterrieseln. Abgesehen von der Anstrengung, die das Stehen für mich darstellte, war dies der bei weitem entspannteste Moment, den ich bisher in der Klinik erlebt hatte. Nach einiger Zeit hörte ich nichts mehr außer dem Rauschen des Wassers, das meine Haut säuberte und meinen Kopf klärte.

Ich möchte nicht wieder nach draußen.

Das war alles, woran ich denken konnte. Denn draußen war die Angst. Draußen waren meine Krankheiten. Draußen waren die Menschen, die Erwartungen an mich hatten, die ich niemals erfüllen könnte, wie sehr ich es auch versuchen würde.

Gesund werden. Das würde doch nie passieren. Jedenfalls nicht mit mir.

Plötzlich überkam es mich. Ich spürte es nicht einmal, doch die warmen Tränen, die mir ungehemmt über die Wangen liefen, verrieten es mir.

Ich weinte.

Der ekelerregende Vorhang machte es mir unmöglich, einen Blick auf mein Ebenbild im Spiegel zu erhaschen, doch ich konnte mir das Gesicht, das zurückstarren würde, nur allzu gut vorstellen.

Verquollene Augen. Nasse Wangen. Zitternder Mund. Von Schluchzern erschüttert. Am gesamten Körper bebend.

Da wurde mir erneut bewusst, in welcher hoffnungslosen Situation ich mich befand. Mir wurde Hilfe versprochen; doch für mich würde sie nie kommen, dessen war ich mir sicher.

Meine Beine gaben nach und ich sackte auf die Bodenfliesen, deren verschimmelte Fugen mich nicht weiter anekelten, denn auf einmal war nichts mehr wichtig für mich.

Nichts.

Sollte ich doch krank werden.

Egal.

Sollte ich doch sterben.

Egal.

Was auch immer mit mir passieren würde, es war mir egal.

Meine Knie fingen aufgrund des harten und rauen Untergrunds an zu schmerzen, doch ich kümmerte mich nicht darum, in eine andere Sitzposition zu kommen. Das Kribbeln, das ich mittlerweile in beiden Beinen verspürte, kündigte die fehlende Blutversorgung an, aber ich starrte einfach weiter gegen die weißgekachelte Wand, an der sich verschiedenste Wassertropfen ihren Weg nach unten bahnten.

Sie hängten einander ab, saugten sich gegenseitig auf, wurden aufgrund dessen stärker und zerstörten weitere Wassertropfen.

Menschen waren in der Hinsicht nicht sonderlich anders.

Mein Blick fiel auf einen besonders kleinen Wassertropfen, der sich im Schutz einer naheliegenden Fuge mühsam seinen Weg bahnte, doch nach wenigen Sekunden von einer vorbeirauschenden Wasserwelle vernichtet wurde.

Das bin ich. Ich bin dieser Wassertropfen.

Benutzt zum Vorteil der anderen und schließlich komplett zerschmettert und somit unbrauchbar gemacht.

Doch wer waren die anderen?

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, gegen die Wand zu starren und die Tropfen zu beobachten. Es wurde nicht trist oder langweilig, sondern immer interessanter mit jeder Sekunde.

Es bildeten sich Gruppen, die Einzelgänger vernichteten oder gegen andere antraten, gewannen oder verloren und somit für immer verschwanden.

Manche gaben auf und beschlossen, nicht weiter zu kämpfen. Sie bewegten sich nicht von der Stelle und warteten einfach, bis sie von anderen Gruppen aufgesaugt und ihrer Individualität beraubt wurden.

Wollte ich so enden? Wie alle anderen, ohne jeden Sinn für Eigenheit?

Wieso mussten die Wassertropfen überhaupt kämpfen? Sie könnten sich doch ordnen und einzeln ihren Weg zum erträumten Ziel finden, doch stattdessen bestahlen sie sich gegenseitig ihrer Selbst, um als Stärkste aus dem Rennen zu kommen; um der Gewinner zu sein, die Superlative des Seins.

Ist das erstrebenswert?

Nein, nein, nein.

Bevor ich endete wie alle anderen, wollte ich mein Leben selbst beenden. Doch wie, wenn die Entscheidung zum Selbstmord so viel mit sich zieht?

Die Schuld, das Klagen der Angehörigen, das endgültige Ende.

In diesem Moment kippte ich nach vorne.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt