Kapitel 75

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Ich und mein Bruder auf einem gemeinsamen Spaziergang? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

"Bist du sicher? Also eigentlich–"

"Ziemlich sicher", unterbrach Jonathan mich und trat noch einige Schritte näher. "Wir haben uns seit Monaten nicht mehr gesehen."

Seit wann scherte sich mein Bruder darum, Zeit mit mir zu verbringen? Ich traute dem Ganzen noch nicht, wollte ihn gleichzeitig jedoch nicht abweisen und dadurch verärgern. Das konnte ich mir in meiner aktuellen Situation nicht leisten, immerhin stand schon mehr als die Hälfte meiner Familie auf Kriegsfuß mit mir. Zwar konnte ich noch immer nicht ganz glauben, was gerade passierte, doch die Entscheidung war ziemlich offensichtlich.

"In Ordnung."

Jonathans Lächeln verstärkte sich noch mehr und seine mit dunklen Wimpern umrahmten Augen verengten sich zu kleinen Halbmonden. Ob er sich ehrlich freute oder einfach nur schauspielerte konnte ich in diesem Augenblick noch nicht abschätzen.

"Und wohin geht die Reise?", fragte er geschäftig und machte sich bereits auf den Weg zurück in die Station, wobei ihm mein überrumpelter Gesichtsausdruck nicht zu entgehen schien. "Du musst dich doch noch abmelden, oder?"

Diese Aufmerksamkeit an ihm war mir neu. Wortlos nickend folgte ich ihm in den Gruppenraum und füllte dort die Formalien aus, bevor wir uns erneut nach draußen begaben und schließlich den Innenhof verließen. Dabei musste ich immer wieder an meine Seite spähen und konnte einfach nicht fassen, dass er tatsächlich neben mir stand. Jonathan, mein Bruder, war in den vergangenen Wochen und Monaten eine Art Fabelwesen für mich gewesen. Die Idee eines Bruders, der nicht wirklich existierte, sondern aus reinem Wunschdenken bestand. In den letzten Tagen vor meiner Klinikeinweisung hatte ich nicht mehr viel von ihm mitbekommen, denn wir beide hatten uns in unsere Zimmer zurückgezogen. Ich wollte mich vor der mir bekannten Welt verstecken und er lebte durch seine Computerspiele in mehreren gleichzeitig, nur nicht in der Realität. Vielleicht waren wir doch nicht so verschieden, wie ich immer geglaubt hatte.

Teilweise hatte ich sogar vergessen, wie er aussah, doch jetzt ging er direkt neben mir. Er wirkte viel größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, und überragte mich um sicherlich mehr als einen Kopf. Schon bei seiner Einschulung war er der Klassengrößte gewesen, doch seine damaligen Maße waren mit seinen jetzigen über zwei Metern kaum zu vergleichen. Wie auch ich war er schlank – meine Großmutter bezeichnete ihn sogar immer als 'ihren Hungerhaken' –, hatte im Gegensatz zu mir jedoch sehr breite Schultern und ein kantiges Kinn. Er könnte sehr attraktiv sein, wenn er sich nur darum kümmern würde, doch jetzt wirkte er müde und ausgelaugt. Wenn ich an meine Eltern zurückdachte, wunderte mich das nicht sonderlich.

Es war, als würde ich ihn das erste Mal wirklich sehen; live und in Farbe. Seine langen, schlanken Finger ähnelten meinen, nur waren seine Hände deutlich größer und kräftiger. Wir beide hatten ungewöhnliche Einkerbungen in unseren Ohrmuscheln, die ich noch bei keinem anderen gesehen hatte. Mit meiner Mutter oder meinem Vater hatten wir beide äußerlich als auch innerlich nicht viel gemeinsam, doch wir sahen und waren uns auf eine gewisse Art und Weise ähnlich.

Wir gingen Seite an Seite den rotgepflasterten Weg entlang, sprachen jedoch minutenlang kein einziges Wort miteinander. Es fühlte sich an, als müssten wir uns erst aneinander gewöhnen, bevor wir uns trauten, etwas zu sagen. Immer wieder sah ich vereinzelte Vögel in der Luft herumfliegen, doch Sol war nicht unter ihnen, obwohl ich genau ihn in diesem Moment gebraucht hätte. Er wäre vermutlich in der Hoffnung auf Futter auf meiner Schulter gelandet und hätte an meinem Ohr geknabbert, anstatt sich in Büschen zu verstecken oder im Sinkflug an mir vorbei zu rauschen. Auch wenn er nur ein Vogel war und mich nicht mit Worten hätte aufmuntern können, wäre er eine gewaltige mentale Stütze für mich gewesen. Ein kleines Vögelchen, das mich kannte und keine Fragen stellte, auf welche ich die Antwort nicht wusste.

Jonathan belästigte mich ebenfalls nicht mit tausenden von Worten, wie es meine Mutter vermutlich getan hätte, doch im Gegensatz zu Sol merkte ich bei meinem Bruder, wie ihm Fragen auf der Zunge brannten. Das konnte ich ihm angesichts unserer Situation auch nicht verdenken, doch zeitgleich wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Ihn nach seinen Erlebnissen in den letzten Wochen fragen oder lieber doch erst von mir erzählen, um die Stimmung ein wenig aufzuwärmen? Aber was könnte ich schon von mir erzählen, ohne zu viel zu sagen? Ohne wegen Evelyns letztendlich ungewollten Selbstmordversuch oder Sams Tod in Tränen auszubrechen? Lieber schwieg ich, während wir im Gleichschritt den Weg zum Klinikpark bestritten. Doch Jonathan hatte andere Pläne. Gerade waren wir bei den Therapiepferden und ihrer Weidewiese angekommen, erhob er schon die Stimme.

"Was ist geschehen?"

Was geschehen war? Unsicher erwiderte ich den intensiven Blick, mit dem mein Bruder mich bedachte. Er war nicht so aggressiv oder bohrend wie der meiner Eltern, sondern wirkte viel eher neugierig und interessiert. Dennoch fühlte ich mich automatisch von dem grellen Türkisblau seiner Augen eingeschüchtert. Diese ungewöhnliche Färbung hatte mich schon als kleines Kind eingeschüchtert, denn im Vergleich zu meinem ruhigen Grau wirkte seine Augenfarbe so selbstbewusst und eindringlich, dass ich nicht anders konnte, als den kurzen Blickkontakt zwischen uns zu unterbrechen. Dieses Merkmal hatte er von seinem Vater geerbt. Unserem Vater.

Der Geruch nach Pferdedung und Gras verflog langsam, je näher wir dem mir bekannten, kleinen Wald im Inneren des Klinikparks kamen. Mit jedem Meter wurde ich unsicherer, ob ich Jonathan tatsächlich an diesen für mich so wichtigen und intimen Ort führen sollte, doch letztendlich lief alles darauf hinaus. Ich kam den mir bekannten, mittlerweile herbstlich gefärbten Baumkronen immer näher und konnte nicht anders, als ins Gebüsch zu treten und den Weg ins Waldinnere fortzusetzen. Es war mir gleich, dass mein Bruder bei mir war; in diesem Moment zog mich alles in meinem Körper an diesen Ort. An den einzigen Platz auf dem Klinikgelände, an dem ich tatsächlich loslassen konnte und nicht an den Alltag erinnert wurde.

Hinter mir hörte ich Jonathan, wie er sich sichtlich verwirrt durch das Unterholz schlug und durch seine hochgewachsene Gestalt immer wieder an Ästen oder Dornen hängen blieb, doch er kehrte nicht um und bemühte sich, dicht an meinen Fersen zu bleiben. In mehreren Metern Entfernung erkannte ich bereits die mir nur allzu gut bekannte Eiche, deren Blätter bereits in Mengen abgefallen waren, doch für mich machte das kaum einen Unterschied.

Es war immer noch einer der wenigen Orte für mich, an denen ich frei atmen und einfach nur leben konnte. Mittlerweile hatte sich ein breites Lächeln auf mein Gesicht geschlichen und ich versuchte nicht einmal, es zu unterdrücken. Ich war hier glücklich.

Kleine Stöckchen und herbstlich gefärbtes Laub raschelten unter meinen Schuhsohlen, während ich die letzten Meter zur schützenden Eiche überwand. Für einen kurzen Moment ebnete ich meine Gesichtszüge und drehte mich zu Jonathan um, der trotz einigen Kratzern im Gesicht aufrecht hinter mir stand und die Szenerie misstrauisch betrachtete.

"Hierhin gehe ich gerne, wenn es mir nicht gut geht. Naja, selbst wenn es mir relativ gut geht, bin ich gerne hier. Also, ich mag diesen Ort", stammelte ich ungelenk und rieb mir die Handgelenke, wobei meine Augen immer wieder vom Baum über den Teich bis zu dem unsicheren Gesichtsausdruck meines Bruders zuckten.

Würde er mich auslachen? Der Jonathan von früher hätte jedenfalls genau das getan.

Er sah sich immer wieder um, betrachtete das verblühende Gebüsch, die mächtigen Baumwurzeln und den beinahe vollkommen verlassenen Teich. Nach einigen Sekunden, die mir wie Stunden vorkamen, drehte er sich zu mir um und atmete tief aus. Hielt seinen Atem. Atmete tief ein. Hielt seinen Atem.

"Mir gefällt es hier", stellte er schließlich fest, wobei er beinahe wie zu sich selbst nickte und seinen Blick auf der Natur vor uns verweilen ließ.

Bei diesen Worten fiel mir ein Stein vom Herzen. Ihm gefiel mein kleiner Rückzugsort. Er fand es nicht albern oder zu verträumt, wie es vor ein paar Jahren oder sogar nur Monaten der Fall gewesen wäre; stattdessen hatte er sich die Zeit genommen und die Umgebung in sich aufgesogen, wie ich es jedes Mal tat, wenn ich die kleine Waldlichtung betrat. Dieses Mal erwiderte ich seinen Blick, ohne wegsehen zu müssen.

"Ich mag es hier auch, schon vergessen?", ertönte jedoch plötzlich eine Stimme über mir und ich zuckte panisch zusammen.

Augenblicklich sah ich nach oben und blickte in ein sehr bekanntes Gesicht mit blasser Haut, umrahmt von dunklen Haaren und gezeichnet mit tiefvioletten Augenringen.

"Flint!"

Eine Gänsehaut machte sich auf meinen Armen und meinem Rücken breit. Ich hatte unser Treffen vergessen.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt