Kapitel 57

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Es war bereits später Nachmittag, als Sam und ich den Weg nach draußen wagten. Auf unserem Spaziergang zum Park begegneten wir keiner einzigen Menschenseele an der sonst so belebten und befahrenen Hauptstraße des Klinikgeländes. Alles wirkte friedlich und ruhig, sodass selbst wir kein Wort miteinander wechselten und einfach nur der Natur lauschten. Das abendliche Zwitschern der Vögel erinnerte mich an Sol, den ich schon seit einer langen Zeit nicht mehr gesehen hatte und umso mehr vermisste. Es war eine Sache, Zeit mit einem Menschen zu verbringen, doch die wenigen Minuten, die ich mit Sol hatte verbringen dürfen, waren noch unbelasteter gewesen. Ich musste nicht jede Sekunde eine Frage zu meinem psychischen Zustand fürchten und wurde auch sonst nicht mit unnötigen Worten belastet, die letztendlich doch nichts bedeuteten. Doch auch heute mit Sam gelang es mir, mein störendes Umfeld komplett auszublenden und nur auf das Gute in jedem Moment zu achten. Solche Augenblicke waren selten, weshalb ich sie umso mehr zu schätzen gelernt hatte.

Als wir schließlich im kleinen Klinikpark angekommen waren, setzten wir uns auf eine Bank in der Nähe eines Tümpels, in dem in den jetzigen Abendstunden Enten vor sich hindösten und sich entspannten. Abgesehen von ihrem Gequake wurden wir hier von einer friedlichen Stille begrüßt, die wir dankend annahmen.

"Wie lange hast du Ausgang?", fragte mich Sam mit einem unsicheren Blick, der mich zwar verwirrte, aber dennoch nicht davon abhielt, auf meine Armbanduhr zu blicken.

"Genau 19 Uhr. Wieso?"

Sam legte ihre Beine auf den Mülleimer und entspannte sich augenblicklich.

"Gut. Dann haben wir noch Zeit vor der Nachtruhe. Ich würd' gern' für immer hierbleiben, und du?"

Mit einem Lächeln stimmte ich ihr zu und lehnte mich zurück, um die sanften Abendlichter am Himmelszelt zu genießen. Lila wechselte mit Rot und verwandelte sich in Orange; und während ich dieses Farbspiel mit ungewöhnlich gelassenem Gemüt beobachtete und auf mich wirken ließ, spürte ich auf einmal Sams Hand auf meiner.

"Danke, Letty. Und mach dir bloß keine Vorwürfe wegen den letzten Wochen, das is' echt in Ordnung. Für solche Momente hat sich das gelohnt. Einfach nur in der Natur sitzen und die Welt um sich herum betrachten. Was für 'nen Gefühlsmist rede ich hier eigentlich? Ich glaube, deine Gesellschaft tut mir doch nicht gut", lachte sie schallend und ich stimmte wider Willen ein.

Ihr Lachen war schon immer ansteckend für mich gewesen; selbst in meinen dunkelsten Momenten hatte Sam das genau gewusst und mich wieder aufgeheitert. Das konnte niemand wie sie und würde es auch nie können.

"Ich muss dir aber auch danken, Sam."

Augenblicklich drehte sie ihren Kopf zu mir und blickte mich voller ehrlicher Verwirrung an.

"Wofür is' das denn jetzt?"

Leise kicherte ich vor mich hin, denn Sam schien tatsächlich nicht begriffen zu haben, wie wichtig sie mir war. Das war aber auch typisch für sie, denn dieser besondere Humor, mit dem sie mir schon oft den Tag gerettet hatte, war für sie selbstverständlich. Vermutlich war es ihr einfach angeboren, sodass sie ihr ungewöhnliches Verhalten gar nicht mehr bemerkte und es einfach in ihren Alltag einfloss.

"Für dich. Dankeschön für dich, Sam."

Sofort erschien wieder das altbekannte Grinsen auf ihrem Gesicht und sie lehnte sich wieder auf der Bank zurück.

"Tja, ich bin halt schon was Tolles, nich'?", erwiderte sie erst voller Sarkasmus, schluckte dann jedoch hart und fuhr deutlich ernster fort. "Ähm, also ... danke, schätz' ich? Dass du mich magst, mein' ich. Ach, ich kann solche Sachen nich'."

"Was meinst du?"

Nun rappelte Sam sich endgültig auf, wandte sich mir komplett zu und erwiderte meinen Blick leicht beschämt.

"Naja, dieses Gefühlsding. Ich bin keine wirklich gute Freundin, weil ich einfach nich' über mich oder meine Gefühle reden kann. Keine Ahnung, ob das überhaupt Sinn macht, ich weiß nicht. Aber was ich dir eigentlich mit diesen dummen, holprigen Sätzen sagen möchte, is' dass du mir total viel bedeutest, ob wir nun extrem viel Zeit miteinander verbringen oder eben nich'. Ich hab' außerhalb der Klinik niemanden."

Peinlich berührt starrte sie auf die abblätternde Lackfarbe der Holzbank und mir wurde bewusst, wie einsam Sam eigentlich war. All der Humor und die ganze Show um ihre Person waren eigentlich nur dafür da, um ihre verletzliche Seite vor der Außenwelt zu verstecken. Nachdenklich versuchte ich mich zu erinnern, ob sie jemals von ihrer Familie gesprochen hatte, doch mir fiel kein Moment ein, in dem Sam nur ein Wort über sie verloren hatte. Als unsere Blicke sich das nächste Mal kreuzten, öffnete sich der Knoten.

Sam war genauso wie ich. Sie mochte zwar eine extrovertiertere Ader haben und sich auch sonst gut zu Wort melden können, doch eigentlich fühlte sie sich innerlich genauso verloren und alleine wie ich.

Die nächste halbe Stunde verbrachten wir genau so; mit tiefsinnigen Gesprächen, die Sam zwar oberflächlich als albern und gefühlsduselig betitelte, sie eigentlich aber zu genießen schien. Auch über Evelyn redeten wir kurz, wobei mir klar wurde, dass die beiden sich viel länger kannten als ich sie. Vielleicht ahnte Sam etwas von Evelyns Problemen, doch sie war taktvoll genug, es mir gegenüber nicht anzusprechen, wofür ich ihr dankbar war. Zwar wollte ich es jemandem erzählen, doch gleichzeitig hatte ich Angst vor dem, was ich sagen würde. Stattdessen blieben wir bei vertrauten, aber dennoch sicheren Themen, sodass keine von uns sich unwohl fühlen musste.

Auch als wir uns schließlich auf den Weg zurück zur Station machen mussten, brach diese Stimmung nicht ab und wir redeten ununterbrochen. Sam nahm den Großteil des Gesprächs ein, was mich jedoch nicht störte, da ich das Gefühl hatte, dass sie diese Zeit brauchte und sie sich auch verdient hatte. Außerdem hörte ich ihr gerne zu, wie sie immer tiefgründiger und sensibler wurde, bis sie sich mit einem selbstironischen Kommentar selbst unterbrach und über sich lachte. Erst um 20 Uhr brachen wir unsere Unterhaltung ab, da wir von der Nachtschicht mehrmals ermahnt worden waren, und schalteten schließlich das Licht unserer Nachttischlampen aus. Anhand Sams Schnarchen konnte ich schnell erkennen, dass sie schlief, doch typisch für mich blieb ich noch eine lange Zeit wach und wälzte mich in meinem Bett hin und her, bis ich mich schließlich aufrappelte und die Toilette aufsuchte. Dort wurde ich beim Betreten des Raumes erneut mit all den Erinnerungen konfrontiert, die ich mit diesen vier Wänden verband, weshalb ich mich bemühte, schnell wieder zurück in mein Stationszimmer zu gelangen.

Dort angekommen fiel mir das Schlafen immer noch schwer, bis ich mich schließlich aufrichtete und las, bis ich von einem leichten Kratzen unterbrochen wurde.

Woher kam dieses Geräusch?

Krgh.

Als es erneut und dieses Mal deutlich lauter ertönte, stand ich mühsam auf und tappte zum Fenster, da es dort immer lauter wurde.

Krgh.

Mittlerweile ernsthaft beunruhigt zog ich schließlich den Vorhang beiseite und musste einen lauten Aufschrei unterdrücken, denn vor meinem Fenster stand Flint mit blutunterlaufenen Augen.

"Hey, Scar."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt