Kapitel 78

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Trete deiner Familie in den Arsch.

Flints Aufforderung schwebte mir noch im Kopf herum, als ich die Stufen zum Eingang des Stationsgebäudes emporschritt. So burschikos seine Worte zuerst auch geklungen hatten, desto bedeutender wurden sie, je länger ich darüber nachdachte. Ich würde ihnen in den Arsch treten, jedem von ihnen. Sie lebten schon viel zu lange in ihrer geschönten Plastikwelt. Vermutlich erzählten sie unseren Nachbarn von irgendeinem spannenden Auslandssemester, das ich aufgrund meines so wundervollen und angeblich makellosen Notenschnitts wahrnehmen durfte. Um noch mehr zu polarisieren, erforschte ich vermutlich auch noch verschiedene Studien der Krebsheilung und würde nächstes Jahr den Friedensnobelpreis erhalten. Meine Mutter würde ihren Freundinnen alles erzählen, um sich als Persönlichkeit hervorzutun und andere neidisch zu machen, obwohl die Wahrheit vollkommen anders aussah. 'Meine Tochter ist seit mehreren Monaten nicht mehr zur Schule gegangen, hat kein Sozialleben und musste vor einiger Zeit in eine psychiatrische Klinik für Kinder und Jugendliche eingewiesen werden' hört sich nun einmal nicht so fabelhaft an wie ihre Scheinerzählungen voller Glanz und Gloria.

Ich würde es ihnen sagen. Nicht in einer halben Stunde, nicht morgen, nicht nächste Woche und erst recht nicht irgendwann. Meine Hände zitterten, als ich die Türklinke des Stationseingangs herunterdrückte, doch innerlich fühlte ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen. Meine Eltern hatten nicht nur mich zerstört, sondern auch meinen Bruder. Ihm konnte ich sein Verhalten nicht einmal zuschreiben, denn dafür lebte er zu sehr in der scheinperfekten Welt, die meine Kindheit dominierte. Voller Tischmanieren und kräftigen Händedrücken, garniert mit freundlichem Nicken und einem regelrechten Schauspiel vor Besuchern.

Das war nicht mehr meine Welt. Da schwebte ich nun, ungezügelt und losgelöst, und konnte es nicht mehr abwarten, meiner biologischen Familie endgültig offenzulegen, wer ich war. Welche Rolle sie in meinem Leben gespielt hatten, ob freiwillig oder nicht. Zwar war ich malträtiert und gebrochen worden, doch nach diesem Gespräch würde ich meine Einzelteile aufsammeln und mich Stück für Stück zusammenflicken können, das wusste ich genau. Meine Worte in den nächsten Minuten würden über den Rest meines Lebens bestimmen.

"Scarlett, da bist du ja wieder. War der Ausgang mit deinem Bruder schön?"

Prompt wurde ich von Herrn Bennett empfangen, der sich gerade einen Kaffee kochte und aus dem Betreuerbüro lugte. Er war so unbekümmert und fröhlich, dass ihm kaum aufzufallen schien, wie sehr seine Worte mich trafen. Der Ausgang hatte gar nicht einmal schlecht angefangen, doch so wie ich den See verlassen hatte, würde es mich nicht wundern, wenn Jonathan nie wieder ein Wort mit mir wechseln würde.

Aber das musste mir egal sein, wenn ich die anstehende Diskussion durchstehen sollte. Ich wollte mir keine Gedanken darum machen, wie mein Bruder wohl auf mein Verhalten reagiert hatte, sondern an die Zukunft denken. An meine Zukunft.

"Es war ... in Ordnung." Wie auch sonst könnte ich mich einem Betreuer gegenüber äußern, ohne dass seine Alarmglocken schrillten? "Ich würde gerne mit meinen Eltern sprechen. Sie sind doch hier auf der Station und warten, oder?"

Herr Bennett musste überlegen und ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus. War etwas nicht richtig?

"Deine Eltern sind noch bei Frau Hendel, ein Gespräch führen", ließ er mich schließlich zögerlich wissen, sah dabei jedoch nicht glücklich aus. Warum verhielt er sich auf einmal so anders?

"Das weiß ich, aber ein Therapeutengespräch mit den Eltern dauert doch normalerweise nicht lang? Worüber reden sie denn so lange?"

Meine Eltern waren nicht einmal hier. Ich war bereit gewesen, doch erneut hatte das Leben mir einen Streich gespielt.

"Tut mir Leid, aber das darf ich dir nicht sagen. Vermutlich dauert das Gespräch noch ein bisschen. Möchtest du hier warten, wenn dein Anliegen dringend ist? Auf dem Sofa liegt eine Decke, wenn dir kalt ist. Der Herbst macht sich immer deutlicher bemerkbar, nicht wahr? Und wir haben gerade einmal den 2. Oktober! Letztes Jahr zu dieser Zeit konnten wir noch Wanderausflüge in T-Shirt und kurzen Hosen machen, jetzt friere ich schon hier im Büro. Eine ordentliche Heizung wäre ja wohl nicht zu viel verlangt, oder?"

Es war bereits der 2. Oktober? Meine Füße bewegten sich in Richtung des besagten Sofas, doch meine Gedanken wandelten in anderen Welten. Übermorgen wäre es bereits drei Monate her, dass ich mein Klinikbett bezogen hatte. Drei Monate voller Schmerz, Tod und Trauer.

Wo Jonathan sich jetzt wohl aufhielt? Ob er den Weg zurück zum Klinikgebäude überhaupt gefunden hatte? Vielleicht hätte ich meine Emotionen herunterschlucken und ihn zur Sicherheit begleiten sollen, anstatt mich feigerweise in den Gruppenraum zurückzuziehen?

Das Sofa war hart und unbequem, allerdings wollte ich mich nicht beschweren. Über die Dachfenster drang kaum Sonnenlicht in den Raum, doch mir war unangenehm heiß, als säße ich unter der Äquatorsonne. Stünde ich vor einem Spiegel, würde ich vermutlich einem puterroten, weinenden und zitternden Mädchen entgegenblicken, denn genauso fühlte ich mich. Wie ein abstoßendes und ewig versagendes Wesen, unbedeutend und klein angesichts der Herausforderungen, die ihm immer wieder gestellt wurden. Ich war gefallen, von einem emotionalen Hoch voller Stärke dank Flints Worte in die Abgründe meiner Gedankenwelt. So sehr ich mir auch wünschte, die Dränge aufzuhalten, die sich in den Tiefen und Winkeln meines Kopfes andeuteten, sie drangen immer weiter in mich ein und übernahmen die Kontrolle über mich.

Scarlett. Komm, Scarlett.

Geh in dein Zimmer. Gerade achtet niemand auf dich.

Weißt du noch? Die Rasierklinge, die du Evelyn abgenommen hast?

Nach ihrem Scheitern?

Sie hat es nicht geschafft. Sie hat es nicht gewollt. Nicht wirklich.

Aber du, Scarlett. Du kannst es tun.

Du kannst es. Jetzt. Drück dich nicht davor.

Tu es.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt