Kapitel 92

2.5K 326 119
                                    

"Und? Was steht drauf?"

Alvin ließ mir nicht einmal die Zeit, den Inhalt des Zettels zu lesen, den ich gerade aus dem provisorischen Adventskalender gezogen hatte. Mein warnender Blick in seine Richtung brachte ihm zum Lachen und sogar einige Außenstehende stiegen ein.

Die Schrift war schon leicht verblasst, vermutlich war sie mit Kaffee in Berührung gekommen, doch die Worte waren noch immer klar lesbar. "Ein fünfzehnminütiger Spaziergang nach dem Frühstück", sagte ich in die gebannte Stille des Gruppenraumes. Augenblicklich wurde ich mit geweiteten Augenpaaren und ungläubigen Gesichtern konfrontiert. Wir dachten wohl alle das Gleiche: Ein Spaziergang? Außerhalb der Station?

Mein Blick wanderte zu Esther, die mir nur gutmütig zulächelte und sichtbare Freude an unseren überrumpelten Reaktionen hatte. "Wir haben mit der Klinikleitung gesprochen und abgemacht, euch als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk diesen Ausgang zu schenken. Das wäre doch ganz nett, dachten wir uns."

Ich lächelte zurück.

Das Frühstück verbrachten Alvin und ich mit Gesprächen übers Zeichnen, den bevorstehenden Ausgang und seine Sommersprossen, die seiner Aussage nach schon seit er denken konnte existierten. Durch sie wirkte er so viel jünger, doch zugleich strahlte er eine Lebenserfahrung aus, die für unser Alter ungewöhnlich war. Teilweise sah ich mich selbst in ihm, doch seine extrovertierte Art war mir noch immer etwas fremd. Von außen mussten wir wie ungleiche Freunde wirken: Der Schlagkräftige und die Schüchterne.

Freunde. An dieses Wort hatte ich mich in den vergangenen Tagen gewöhnt. Zwar erschien es mir unsinnig, nach so kurzer Zeit von Freundschaft zu sprechen, aber auf irgendeine Art und Weise nahm es mir eine Last von den Schultern, jemanden zum Austauschen zu haben. Die Gefühle und Gedanken, die ich zuvor in mir zu verstecken versuchte, konnte ich ihm während unser Nachmittage auf dem stationsinternen Innenhof auslegen, und ihm ging es genauso. Wenn ich mir einen Bruder bauen könnte, wäre es nicht Jonathan, sondern Alvin.

"Alles in Ordnung? Du guckst drein, als hättest du einen Geist gesehen", flüsterte Alvin und warf mir einen besorgten Blick zu.

War es denn so offensichtlich, dass der Gedanke an Familiäres meine Stimmung dämpfte? Ich schien ein vollkommen offenes Buch zu sein. Das Atmen fiel mir schwerer und ich bekam das Gefühl, als hätte sich ein schweres Gewicht auf meine Brust gesenkt.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

"Ja, schon gut. Ich bin nur unfassbar müde." Damit log ich nicht einmal.

Der Rest der Gruppe hatte sich mit unglücklichen Gesprächsversuchen abgefunden und verfiel für den Rest des Frühstücks in typisches Schweigen, das sich wie ein Schatten über den Raum legte.

"Nun, seid ihr alle fertig? Dann kann Musk den Tischspruch sagen und wir stehen auf", beschloss Esther und sah sich nach fröhlichen Gesichtern um. Zu ihrer Überraschung, wie es schien, stieß sie tatsächlich auf einige vor Aufregung glänzenden Augen.

Wir würden nach draußen gehen.

Das Zähneputzen kam mir wie eine Tortur vor, und da war ich nicht allein. Auch die sonstige Morgenhygiene fiel bei allen kürzer aus als sonst, was auch Esther mitbekam, doch ihr wissendes Grinsen sagte mir, dass sie dieses Mal ein Auge zudrückte. Wäre jeder Betreuer wie sie, hätte ich auf Jupiter deutlich weniger Startschwierigkeiten gehabt.

•••

Das Licht fräste sich geradezu in meinen Körper, als ich aus der Eingangstür des Klinikgebäudes trat, doch ich liebte jeden Augenblick davon. Die Sonne schien nicht so intensiv und hell, wie ich es vom Spätsommer gewohnt war, und ich konnte den leichten Wind und die kühle Luft wirklich genießen.

Neben mir trat Jennifer nach draußen und versteckte sich augenblicklich noch tiefer in der Wärme des dicken Schals, den sie sich provisorisch um den Hals geworfen hatte. Obwohl noch lange keine Gefriertemperaturen herrschten, kam sie mit winterlichem Wetter überhaupt nicht zurecht. Lag ihr Verhalten denn tatsächlich an der Jahreszeit oder steckte dahinter etwas anderes? Die auftauchenden Fragen schluckte ich widerwillig herunter und versuchte, mir einen Überblick über mein Umfeld zu erschaffen.

Obwohl ich den kleinen, bewachsenen Hof vor dem Eingangsbereich nur allzu gut kannte, sah ich ihn nun wortwörtlich in einem vollkommen anderen Licht. Die vereinzelten Parkplätze für hochrangiges Klinikpersonal waren fein säuberlich an den Rändern angebracht und von bunten Blumenbeeten umrahmt worden, doch die Farben der Winterblüher brannten sich nicht in meine Netzhaut, wie ich es in den vergangenen Monaten gewohnt war, sondern boten mir ein Schauspiel an Farben in der ansonsten graubräunlichen Landschaft. Hoffentlich würde es bald schneien.

"Und los, Abmarsch!", befahl Esther und ging mit staksigen Schritten voraus. Erst jetzt fiel mir auf, wie zerbrechlich sie eigentlich gebaut war. Ihre schmalen Schultern und der leicht gebeugte Rücken verrieten ihr Alter, dass sie durch ihr sonst so vitales Auftreten überschminken konnte. Auch ihre Kleiderwahl war ... außergewöhnlich für die heutige Zeit. Kontrastierend von den Blüchern in grünbrauner Schlangenlederoptik trug sie einen altrosafarbenen Mantel, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Diverse Flicken erzählten Geschichten von Missgeschicken, Unfällen und Ausrutschern. Die Art, wie sie ihre untere Gesichtshälfte in seinem Kragen und die Hände in den überdimensionalen Jackentaschen vergrub, schien so innig und vertraut, dass mein Herz aufging.

Unser Weg führte uns vom Parkplatz des wichtigen Klinikpersonals über die Hauptstraße und schließlich in den kleinen Klinikpark, mit dem mich so viele Erinnerungen verbanden. Meine Füße streikten und schrien mein Gehirn an, dass ich umdrehen sollte, doch ich ging weiter und entdeckte Bäume, Büsche und Bänke wieder, die ich seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Es fühlte sich an, als befände ich mich in einer Parallelwelt, in der all die Stunden unter dem Schutz der Eiche, die Gespräche mit Flint und das Treffen mit meinem Bruder nie stattgefunden hätten.

Doch sie waren real.

Genauso wie die schemenhaften Gestalten, die ich entfernt im Schatten einer Baumgruppe ausmachen konnte. Ich erkannte sie sofort. Evelyn unterhielt sich gerade mit Arthur und Caroline, doch von Rose oder Fay fehlte jede Spur. Mein Mund wollte nach ihr schreien, meine Beine zu ihr rennen, meine Hände sie umarmen und so schnell nicht wieder loslassen. Doch ich konnte nicht, durfte nicht. Oder?

Zu meiner Rechten stieß mir Esther in die Seite. "Puh, mir ist gerade schwindelig und ich sehe ganz schlecht. Theoretisch könnte jetzt einfach eine Patientin für ein paar Minuten verschwinden, die gesetzlich eigentlich in meiner Obhut ist, und ich würde nichts bemerken. Aber das würde ja so oder so niemand machen", flüsterte sie und beäugte mich mit einem Blick, der schrie: Lauf zu ihnen!

In meinen Augen sammelten sich Tränen, die mein Blickfeld verschwimmen ließen, doch ich bemühte mich, ihr noch einmal mit aller Dankbarkeit, die ich aufbringen konnte, zuzulächeln, bevor ich es tatsächlich schaffte, mich in Bewegung zu versetzen und meine Schritte in Evelyns Richtung zu lenken, die mich mittlerweile ebenfalls bemerkt hatte und ungläubig die Hand vor den Mund hielt. Mehr als fünfzig Meter trennten uns noch, doch irgendwann – ich verlor mein Zeitgefühl – begann ich auf sie zuzulaufen. Sie breitete lachend die Arme aus und schloss mich in die beste Umarmung meines Lebens.

"Ich glaub es nicht, ich glaub es nicht", murmelte sie immer wieder in mein linkes Ohr, während wir hin und her schwankten und beide die Tränen unterdrücken mussten. Ich brach als erste ein und begann zu schluchzen, wie ich es in den vergangenen Monaten so schmerzlich vermisst hatte. Die Taubheit gegenüber Gefühlen und Personen, die ich nach meinem Suizidversuch gefühlt hatte, waren wie weggeblasen. Stattdessen stand ich vor Evelyn und weinte um alles Mögliche, das mir durch den Kopf raste. Um mich, um sie, um Sam, um meine Familie und diese beschissenen Krankheiten. 

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt