Kapitel 74

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Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich mit dem Rücken zur Tür lauschte, wie sich langsam Schritte näherten. Die zielsicheren und schweren meines Vaters, die schnellen und strammen meiner Mutter als auch die leicht schlurfenden meines Bruders, der sich offensichtlich hinter ihnen aufhielt.

Mir blieben nur wenige Sekunden zum Durchatmen, bis meine Zimmertür aufgerissen und Licht in den Raum einließ. Mein Schatten erstreckte sich überlebensgroß vor mir und ich heftete meinen Blick fast schon krampfhaft auf ihn, um nicht die Kontrolle über die Situation zu verlieren, doch schon bald gesellte sich ein zweiter, breitschultriger Schatten zu ihm und ich begann zu zittern.

"Man begrüßt seine Gäste normalerweise, Scarlett. Manchmal denke ich, du hast deine komplette Erziehung verdrängt."

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Am liebsten wäre ich aus dem Fenster gesprungen und meinem Vater entflohen, doch in diesem Augenblick gab es kein Entrinnen für mich. Hastig blinzelte ich die Tränen aus meinen Augen, biss auf meine Lippe und drehte mich zu ihnen um. Meine Mutter, mein Vater und mein Bruder. Sie alle standen da und erwarteten etwas von mir.

"Hallo."

Der Blick meines Vaters wurde augenblicklich von Enttäuschung überschattet, doch davon wollte ich mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ich wollte nicht schon wieder bei einem Aufeinandertreffen mit meiner Familie versagen, wie es zuletzt geschehen war. Das durfte auf keinen Fall noch einmal passieren. Jetzt musste ich Stärke zeigen, ansonsten wäre alles umsonst gewesen und ich stünde wieder ganz am Anfang.

"Wollen wir in den Innenhof gehen?", fragte ich mit zitternder Stimme, deren panischen Tonfall ich innerlich verzweifelt zu unterdrücken versuchte. "Dort ist es etwas heller als hier."

In Wahrheit wollte ich wieder Luft bekommen können, doch das würde ich meinen Eltern nicht sagen. Während wir also nacheinander den mit Laubblättern bedeckten Innenhof der Station betraten und uns um einen schweren Holztisch versammelten, der wie immer in der Mitte des Hofs stand und von zahlreichen Sitzmöglichkeiten umringt war, bemühte ich mich um ruhige Atemzüge und prüfte vorsichtig, ob meine Familie etwas von dem erneuten Panikanfall bemerkt hatten, der mich zu übermannen drohte. Doch sie waren zu sehr damit beschäftigt, den Innenhof und das von hier aus erkennbare Gelände kritisch zu beäugen. Nur mein Bruder schien größeres Interesse an mir als den Gebäuden hinter mir zu haben und betrachtete mich mit dem für ihn typischen, fast schon analytischen Blick.

Die späte Herbstsonne erwärmte meinen Rücken und schien den restlichen Mitgliedern dieser Gruppe ins Gesicht, was mir nur in die Karten spielte. Ich wollte nicht, dass sie all meine Bewegungen und jede Regung meiner zitternden Gesichtszüge wahrnehmen konnten, doch nach nur wenigen Sekunden, die mit unangenehmem Schweigen erfüllt worden waren, versteckte sich die Sonne hinter einem hohen Gebäude und ließ mich demnach schutzlos zurück.

"Hier sitzen wir also", versuchte meine Mutter, einen Dialog mit mir aufzubauen, doch ich sah es nicht ein, ihr diesen Gefallen zu tun. Stattdessen erwiderte ich ihren unbewusst intensiven Blick mit einem umso intensiveren Starren.

Mein Bruder bemerkte die Spannung zwischen uns und räusperte sich geräuschvoll, bevor er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und die Szene vor ihm mit verschränkten Armen beobachtete. Dabei tippte er mit seinem rechten Zeigefinger immer wieder auf seinen linken Ellenbogen, ohne es zu bemerken. Gleichzeitig starrte mein Vater schon zum dritten Mal innerhalb weniger Sekunden auf seine Armbanduhr und blickte ansonsten demonstrativ in die Luft, während meine Mutter den Tisch und die Flecken auf ihm misstrauisch beobachtete. Vermutlich juckten ihre Finger und wollten ein Desinfektionsspray aus ihrer Handtasche zücken, doch bisher hatte sie sich erfolgreich zurückhalten können

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt