Kapitel 82

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Die Nacht war schrecklich. Immer wieder holten mich Geister und Erinnerungsfetzen längst vergangener Tage ein, ohne dass ich mich gegen ihre Auswirkungen wehren konnte. Mir war kalt. Die Bettdecke des Krankenhauses war mir bis zur Hüfte hochgezogen worden, doch der Rest meines Körpers war unter dem dünnen Krankenhauskittel schutzlos der Kälte ausgeliefert. Vielleicht bekäme ich noch eine Nierenentzündung zusätzlich zu meinen jetzigen Problemen, doch selbst dann würde ich die Prozeduren stillschweigend über mich ergehen lassen. Was sollte ich schon dagegen tun? Meine Arme waren noch immer taub und unbenutzbar, doch abgesehen davon hatte ich mir angesichts des Redeschwalls, der mir in Isabel begegnet war, vorgenommen, nicht mehr zu sprechen, wenn ich es nicht wirklich wollte. Das bedeutete vermutlich, dass nie wieder ein Wort meine Lippen verlassen würde, aber auch diese Tatsache lernte ich zu akzeptieren.

Ich schlief kaum, denn sobald ich die Augen schloss, wurde ich überfallen von den letzten Sekunden meiner Zeit in der Klinik. Wie ich die Rasierklinge an meinen wulstigen Narben ansetzte und einfach so tief schnitt, wie meine Kräfte es zuließen. Wie das Blut aus den frischen Wunden auf meinen Unterarmen trat und ich fast schon teilnahmslos betrachtete, wie es von meiner Haut auf den Boden tropfte. Wie ich schließlich umkippte und alles Schwarz wurde. Es war eine Erinnerung an meine Unfähigkeit zu sterben.

Nach vielen unendlich langen Stunden kündigte sich ein weiterer Tag an, indem ich erneut von Sonnenstrahlen geblendet wurde. Ich konnte mir nicht einmal die Bettdecke über den Kopf ziehen und so blieb ich liegen, mit stumpfen Schmerzen, die mit jedem Lichtstrahl stechender wurden, als würde mein Körper sich gegen jede Art der Helligkeit wehren. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Auch ich würde lieber im Dunkeln sitzen und in meinem Elend baden, ohne durch das Himmelszelt an die verstreichende Zeit erinnert zu werden.

Noch vor der Morgenvisite trat ein gewisser Krankenpfleger namens Louis ein. Ein rötlicher Bart bedeckte seine untere Gesichtshälfte, während sein Schädel kahlrasiert war. Sein Erscheinungsbild war ungewöhnlich, doch insgesamt passte alles zusammen. Er hatte breite Schultern und war muskulös, doch seine Hände waren sanft und gingen so vorsichtig vor wie möglich, als er meinen Katheter wechselte und meinen zerbrechlich wirkenden Körper mit einem Waschlappen wusch. Früher wäre mir so etwas unangenehm gewesen, doch ich sah Louis nicht einmal an, während er seine Arbeit verrichtete.

Nachdem er die Tür hinter sich schloss und ich wieder für mich war, konnte ich nicht umhin, froh zu sein, dass nicht Isabel gekommen war. Ihr ständiges Lachen und einfühlloses Gerede war genau das, was ich in meiner aktuellen Situation am wenigsten gebrauchen konnte. Louis schien mich und meine Bedürfnisse verstanden zu haben. Ich wollte nicht reden und die Pflegebesuche so schnell wie möglich hinter mich bringen.

Schließlich nahte die Morgenvisite, bei der ich den mysteriösen und umschwärmten Dr. Orys kennenlernen würde. Hoffentlich glich seine Persönlichkeit eher der eines Louis als einer Isabel, doch schlussendlich würde ich auch nichts daran ändern können, wenn dem nicht so wäre. Wieso also noch hoffen?

Die Tür zum Krankenhausflur erbebte und kurz darauf erschien ein junger Mann, begleitet von zwei Krankenpflegern, im Zimmer. Ich erkannte sofort, was Isabel in Dr. Orys sah, doch anstatt ihn stillschweigend anzuhimmeln, notierte ich sein kantiges Kinn, die strahlend hellblauen Augen, braungebrannte Haut und definierte Statur, als wäre ich die Ärztin und er das zu begutachtende Objekt, denn als nichts anderes fühlte ich mich. Ein Objekt. Selbst auf sein charmantes Lächeln und die freundliche Begrüßung erwiderte ich nichts als Schweigen. Sicherlich entsprach er den Wunschvorstellungen und tauchte tagtäglich in den feuchten Träumen Isabels und anderer Frauen auf, doch ihn anzusehen entsprach meiner Emotionalität beim Durchblättern eines Schulbuches. Ich empfand nichts.

Das sollte sich ändern, als Dr. Orys sich meinem Bett näherte. Augenblicklich stand ich unter Hochspannung und hätte auf der Stelle zusammenbrechen können, läge ich nicht bereits in einem Krankenhausbett. Ich wollte niemanden in direkter Nähe zu mir wissen. Louis und Isabel waren allein gewesen, als sie mich gepflegt und gewaschen hatten, doch jetzt wurde ich nicht von einem, sondern drei Augenpaaren begutachtet und auf Qualität überprüft. Ich wollte sie anschreien, aus dem Zimmer jagen, mit Dingen nach ihnen werfen, doch ich war dessen nicht fähig. Noch nicht einmal meine Nase konnte ich selbstständig ausschnauben.

"Du hast schon deutlich mehr Farbe bekommen, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Das ist gut."

Sicherlich hatte Dr. Orys schon eine Weile versucht, eine Art der Unterhaltung mit mir aufzubauen, doch da stieß er auf verbarrikadierte Fronten. Ich würde nicht mit ihm reden. Mit niemandem. Meine Stimmbänder sollten verrosten, bis ich nie wieder in der Lage wäre, auch nur ein Wort über meine trockenen Lippen zu bringen. Mein Gegenüber schien das widerwillig zu akzeptieren und so wandte er sich wieder den Monitoren zu, die neben mir in die Höhe ragten und beinahe ein Drittel des Raums einnahmen.

"Dann sehen wir uns mal deine Werte der vergangenen Tage an. Deine Lungen arbeiten wieder stabil und wirken erholt. Das ist ein enormer Fortschritt im Vergleich zu dem Zustand, in dem ich dich kennengelernt habe. Auch ansonsten wirken deine inneren Organe in Ordnung, nur auf deine Nieren müssen wir noch ein besonders achtsames Auge werfen. Das werde ich auch noch einmal explizit in meinem Bericht für deine neuen Betreuer erwähnen, also mach dir keine Sorgen, falls du nicht alles von diesem Gespräch bei dir behalten kannst. Ich werde alle deine Daten sorgfältig protokolliert übergeben, damit wir deine bestmögliche Versorgung gewährleisten können. Nicht nur mental, sondern auch körperlich."

Meine neuen Betreuer?

Dann dämmerte es mir. Ich würde nach diesem Attentat auf mein eigenes Leben nicht nach Jupiter zurückkehren. Ich würde nicht auf alte Bekannte wie Herrn Olsen, Evelyn und Arthur treffen, die mich bereits kannten und denen ich so etwas wie Sympathie entgegenbrachte. Ich würde nicht in dem Zimmer schlafen, das Sam und ich zu unserem Heiligtum erklärt hatten und in dem ich dank ihr so seltene Momente des Glücks und der Leichtigkeit erleben durfte.

Meine Zukunft war die Notfallstation. Neptun.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt