Kapitel 29

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Frau Hendel lächelte mich tatsächlich an.

Kein unnachgiebiger Psychologenblick.

Kein desinteressierter Gesichtsausdruck.

Keine angespannten Mundwinkel.

Sie schien meine offene Verblüffung zu bemerken, denn sie begann zu sprechen, wobei sich ihre Stimme ungemein weicher und warmer anhörte.

"Genau das ist, was ich erreichen wollte. Scarlett, das war eine sehr gute Therapiestunde."

Scheinbar schien sie mental bereits dabei zu sein, mich aus ihrem Büro zu scheuchen, doch ich unterbrach sie in ihren Gedankengängen.

"Warten Sie, ... was?"

Ich war einfach sprachlos. Komplett sprachlos.

Wenn sie mich zum Reden hätte bringen wollen, müsste sie sich doch nur mit mir unterhalten? Wieso schien sie so angetan von meinem emotionalen Gefühlsausbruch und dem offensichtlichen Chaos, das sich in diesem Moment in meinem Kopf abspielte? Es war ein Rätsel, auf das ich eigenständig keine Lösung finden konnte.

"Du verstehst mich tatsächlich nicht, oder? Es ging nicht darum, ein Gespräch mit dir zu führen oder mehr über deine alltäglichen Gewohnheiten zu erfahren, sondern Emotionen zu wecken. Scarlett, als du gerade wütend geworden bist, habe ich das erste Mal einen Funken in deinen Augen gesehen, wo zuvor nur Mattheit vorherrschte. Selbst wenn es eventuell nicht der beste Weg war, hat er trotzdem funktioniert; denn indem ich dir gegenüber so abweisend und kalt war, konnte ich deine Emotionen wieder reaktivieren, jedenfalls für eine kurze Zeit. Kannst du das nachvollziehen?"

Doch zu welchem Preis?

"Ja."

"Schön, dass du meine Herangehensweise verstehst, Scarlett. Ich sehe, dass unsere Zeit vorbei ist, also..."

"Ich werde gehen."

"Gut. Diese Woche habe ich keinen Platz für einen weiteren Termin, doch nächste Woche um ungefähr die gleiche Zeit hätte ich wieder eine Stunde frei, ja?"

Ich nickte und stand vorsichtig auf, um meine wackeligen Knie nicht zu überlasten. Was war das denn gerade gewesen? Immer noch unsicher darüber, ob ich wütend auf Frau Hendel oder peinlich berührt sein sollte, weil sie mich psychisch dermaßen kontrolliert hatte, ging ich aus ihrem Therapieraum und schlug die schwere Tür hinter mir zu, ohne mich zu verabschieden.

Nun stand ich inmitten eines langen, schmalen Flurs, der komplett menschenleer schien; nur aus der Ferne hörte man leise Stimmen und das klackernde Geräusch von Absätzen, die auf dem harten Backsteinboden aufschlugen.

Tack, tack, tack.

Man hatte mir gesagt, dass ich aufgrund meiner Instabilität eine Begleitung zurück zur Station benötigen würde, doch ich hatte instinktiv abgelehnt. Diese Starrköpfigkeit würde mir nun zum Verhängnis werden, denn ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand.

Tack, tack, tack.

Unsicher tastete ich mich den Gang entlang, welcher nie zu enden schien und mich nach einigen Minute in einen tranceartigen Zustand versetzte.

Backstein.

Überall war Backstein.

Rostrot.

Alles war rostrot.

Tack, tack, tack.

An einer weiteren Kreuzung, die immer weiter ins Innere der Klinik zu führen schien, lief ich auf einmal geradewegs in die Arme einer klackernden Absatz tragenden Stationsärztin, die beinahe genauso überrascht von meiner Anwesenheit schien wie ich selbst. Ihre kleinen, braunen Augen weiteten sich verschreckt, als ich reflexartig von ihr abschreckte und mich an die gegenüberliegende Wand zurückzog. Nach einigen Sekunden des Schrecks fing sie sich anscheinend wieder und näherte sich mir langsam, wobei sie die Arme betont beruhigend vor sich streckte, doch ich wich immer weiter von ihr zurück.

"Hey, alles in Ordnung. Ich bin Doktor Klein."

Der Name passte, denn sie ging mir noch nicht einmal bis zur Schulter.

"Wo kommst du denn her? Oder genauer gefragt, wo möchtest du hin?"

"Ich hatte gerade Therapie. Jetzt sollte ich zurück zu meiner Station, aber ich finde den Weg nicht."

"Soll ich ihn dir zeigen?"

"Das wäre nett."

Offensichtlich ermutigt von meinem etwas weniger abweisenden Verhalten ging sie zielstrebig in die entgegengesetzte Richtung, in die ich mich zuvor gewagt hatte. Diese Anstrengung war also auch umsonst gewesen.

"Also, wie ist dein Name?"

Erst nach einigen Sekunden begriff ich, dass ihre Frage mir galt.

"Ähm, mein Name ist Scarlett."

Bei diesem Satz dreht sie sich im Gehen zu mir um und musterte mich, jedoch war sie dabei nicht so eindringlich und furchteinflößend wie Frau Hendel. Sie schien mich eher anzusehen, als würde ich sie an etwas erinnern.

"Du bist der Neuzugang auf Jupiter, oder?"

"Ja."

"Und, wie hast du dich soweit eingelebt?"

"Geht so."

Unser einsilbiges Gespräch wurde von einem schrillen und kränklichen Schrei unterbrochen, der durch die Gänge hallte und mich unterbewusst zusammenfahren ließ, doch schon nach der nächsten Kreuzung wurde mir schmerzlich bewusst, woher diese Laute tatsächlich kamen.

Ein Mädchen und vier Männer, die sie an je einem ihrer Gliedmaßen festhielten und in einen Raum zu zerren versuchten, wobei das kleine Wesen zwischen ihnen sich verzweifelt zu wehren versuchte. Wild um sich strampelnd trat sie den Männern mit ihren Füßen in die Bauchgrube oder zerkratzte ihnen mit ihren Fingernägeln die Arme, doch sie waren unerbittlich und zogen sie einfach weiter.

Was hatte sie getan, dass man sie so grob behandelte?

Frau Klein schien meinen Schock zu erkennen und trat mit mir in den Schatten einer Gangkreuzung, sodass mir der Blick auf das arme Mädchen erspart blieb.

"Eine Patientin von Neptun. Das ist schon ihr dritter Nervenzusammenbruch in diesem Monat. Ich bin zwar der ärztlichen Schweigepflicht unterbunden, doch ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es irgendwann bergauf mit ihr gehen wird. Natürlich ist mir bewusst, wie harsch das klingt, doch sie zeigt einfach keine Besserung, nimmt ihre Medikamente nicht und verweigert jede Behandlung. Unserem Klinikverband gehen die Ideen aus, sodass wir sie nur noch vor sich selbst beschützen können."

Mit diesen Worten geleitete sie mich einen anderen Gang entlang und schwieg den restlichen Weg, während mich nur noch das Bild von dem Mädchen und den vier Männern verfolgte. Erst im Nachhinein fiel mir etwas an ihr auf, das ich zuerst übersehen hatte.

Ihre Arme waren übersäht von Narben, so wie ich sie tragen musste.

Tief und wulstig.

Violett und glänzend.

Würde ich wie sie enden?

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt