Kapitel 9

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»Nein«, antwortete ich schlicht, doch dann erinnerte ich mich daran, wie nett sich Herr Olsen mir gegenüber verhalten hatte, und fügte noch rasch ein »Danke« hinzu. Während der Betreuer an der Küchentheke stand und weiter an meinem Abendessen herumwerkelte, betrachtete ich ihn genauer.

Normalerweise tat ich so etwas nicht, da mir der Kontakt mit Menschen zuwider war, doch da er mir im Moment keine Aufmerksamkeit schenkte, ergriff ich die Chance, um mir ein erweitertes Bild von ihm machen zu können.

Seine langen Haare hatte er zu einem lockeren Knoten gebunden, wie ihn normalerweise frischgebackene Mütter in den ersten ermüdenden Tagen nach der Geburt ihrer Kinder trugen, und die Ähnlichkeit brachte mich innerlich zum Schmunzeln. Nicht nur die Frisur, sondern auch die gewissenhafte Art, wie er in der Küche hantierte, ließ ihn in dem Licht einer waschechten Hausfrau erstrahlen.

Seine schmalen Lippen bewegten sich immer wieder, als sänge er lautlos zu einem seiner Lieblingslieder, und er wippte seinen Kopf zu einem nur ihm bekannten Takt. Irgendwie war es beruhigend, ihm bei einer so alltäglichen Beschäftigung zusehen zu können. Ohne Zeitdruck, ohne das ständige Erinnertwerden an die Außenwelt – einfach nur ich, dieser eigenwillige Betreuer und das gleichmäßige Geräusch des Gemüsemessers, wie es immer wieder auf das Schneidebrett herabfuhr.

»So, hier kommt das Essen. Was Besseres habe ich auf die Schnelle nicht zustande gebracht, tut mir wirklich Leid«, beichtete mir Herr Olsen, als er mit entschuldigendem Gesichtsausdruck einen Teller vor mir hinstellte. Ich sah auf das Avocadosandwich mit Gurken und Tomaten hinab, während ich das ungeduldige Knurren meines Magens zu ignorieren versuchte; ebenso wie das pelzige Gefühl auf meiner Zunge.

Wie lange war es her, seit ich das letzte Mal etwas Richtiges gegessen hatte? Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Zaghaft begann ich, an einer Brothälfte zu knabbern, und zuckte zusammen, als das erste Mal seit gefühlten Jahren wieder ein Geschmack meinen Gaumen berührte. Das wohltuende Gefühl stoppte nicht und ich nahm einen herzhaften Biss. Über den Tisch hinweg grinste mich Herr Olsen einfach nur wissend an.

»Das eben war ein Scherz. Ich mache die besten Avocadosandwiches in der Stadt«, meinte er und lachte einmal laut auf, wobei ich automatisch an meine Mitpatienten denken musste, deren Nachtruhe nun unterbrochen wurde. Doch der Mann mir gegenüber schien meine Gedanken zu lesen, welche aufgrund meiner alarmiert aufgerissenen Augen wohl nicht allzu schwer zu erraten waren.

»Keine Sorge, die schlafen alle schon tief und fest. Dein Zimmer war das Letzte, in das ich gegangen bin. Vorher war ich schon bei allen anderen und sie haben geschlafen.«

Unwillkürlich fragte ich mich, ob das denn jetzt auch noch der Fall war.

»Hör mal Scarlett, deine Ankunft hier war ja bekanntlich etwas ... sagen wir, turbulent. Daher hatten die anderen Betreuer noch nicht die Chance gehabt, dich in das gröbste Regelwerk hier auf Station einzuweisen. Fühlst du dich jetzt aufnahmefähig genug, damit ich dir ein bisschen was über das Leben hier erzählen kann?«

Ich nickte. Irgendwann würde dieser Zeitpunkt sowieso kommen und Herr Olsen war mir von allen Betreuern, die ich bis jetzt getroffen hatte, bei weitem am sympathischsten.

»Gut, dann lege ich jetzt mal los. Wo fange ich denn am besten an... Jeden Morgen werden die Patienten auf Jupiter um 7:30 Uhr geweckt, da es um 8 Uhr Frühstück gibt. Ich weiß«, fuhr er fort, als er in mein geschocktes Gesicht blickte, »das mag auf dich erst einmal etwas früh erscheinen, da du laut deiner Akte fast den gesamten Tag in deinem abgedunkelten Zimmer verbringst, aber nach ein paar Tagen gewöhnst du dich sicherlich daran. Anfangs fühlen sich viele Patienten ziemlich überfordert mit der Situation, doch nach einiger Zeit passen sie sich den gegebenen Umständen an; das schaffst du mit Sicherheit auch«, ermutigte er mich.

»Mittagessen gibt es um zwölf und Abendessen um achtzehn Uhr. Zwischen den gemeinsamen Mahlzeiten gibt es auch noch die Möglichkeit, dass du Obst oder Gemüse essen kannst. Junkfood oder andere Süßigkeiten gibt es nur in geregelten Maßen. Magst du Süßes?«

»Nicht wirklich. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.«

»Osborn ist da ganz anders«, erwiderte Herr Olsen kichernd und nahm sich eine Traube aus dem zwischen uns stehenden Obstkorb. »Viele hier haben schon fast eine Sucht nach Süßigkeiten entwickelt, doch da stellst du wohl die Ausnahme dar«, fuhr er fort und warf sich die Frucht in den Mund, während er mich wieder freundlich anlächelte.

Da er tatsächlich nett schien, wagte ich den Schritt und sprach eine Frage aus, die mir schon seit meinem Gespräch mit dem Maulwurf, wie ich Herr Perkins mittlerweile nannte, auf der Zunge lag.

»Was ist eigentlich so mit den anderen Stationen? Ist es dort genauso wie hier?«

Nur einen Wimpernschlag lang runzelte Herr Olsen die Stirn, dann fing er sich jedoch wieder und begann zögerlich zu sprechen.

»Nun ja, Neptun ist natürlich eine Ausnahme. Unsere Krisenstation, du hast doch schon von ihr gehört oder?« Von meinem Nicken ermutigt fuhr er fort. »Dann gibt es noch Uranus, eine Station für die etwas jüngeren Patienten, die in der Vergangenheit Verhaltensstörungen aufgewiesen haben oder Probleme mit älteren Jugendlichen zeigen. Da gibt es verschiedene Gründe: Misshandlungen von älteren Geschwisterkindern, starkes physisches oder psychisches Mobbing in der Schule und ähnliches. Jupiters Schwesternstation Saturn ist uns sehr ähnlich, abgesehen von ein paar stationsinternen Angelegenheiten. Sogar die Probleme der Patienten, die Programme und Therapien ähneln sich weitestgehend. Zuletzt gäbe es da noch Venus und Merkur, ebenfalls Schwesternstationen, die jeweils nur von weiblichen und männlichen Patienten bewohnt werden. In ihren Programmen geht es meistens um selbstverletzendes oder zerstörendes Verhalten und die meisten der Betreuer, die dort arbeiten, haben besondere Schulungen absolviert, um auf die empfindlichen Bedürfnisse der Patienten einzugehen. Dort ist der Umgang mit den Kranken oft viel sensibler als auf den anderen Stationen. Außerdem sind die meisten Jugendlichen dort schon älter«

»Was heißt ›älter‹?«

»Die meisten sind ungefähr sechzehn oder siebzehn, doch bei besonders schweren Fällen, die vor ihrer Volljährigkeit hier eingewiesen werden, kann der Aufenthalt auch noch länger dauern. Momentan gibt es einen Fall auf Merkur, der neunzehn Jahre alt ist.«

Sobald er diesen Patienten erwähnte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck und er stand auf einmal ruckartig auf, woraufhin ich erschrocken zusammenzuckte.

Habe ich etwas falsch gemacht?

»Wie ich sehe, hast du schon aufgegessen. Möchtest du wieder zurück in dein Zimmer? Tut mir Leid, falls noch ein paar deiner Fragen offen sind, aber ich habe übermorgen wieder Schicht, dann können wir gerne wieder reden. Wäre das in Ordnung für dich?«

Da war es wieder, sein sympathisches Lächeln. Was war denn gerade passiert? Stumm nickte ich und ließ mich von ihm zurück in mein Zimmer leiten. Auch als er sich flüsternd verabschiedet hatte und die Tür schon lange geschlossen war, kam ich nicht um das Grübeln herum.

Was ist mit all diesen Menschen passiert, dass sie hier gelandet sind?

Wer ist dieser Patient, der schon jahrelang therapiert wird?

Werde ich vielleicht sogar wie er enden? Möchte ich das?

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt