Kapitel 31

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"Gehe die klinikinterne Hauptstraße bis zum Ende des Geländes entlang. Passiere das Tor und drehe nach rechts; nach ungefähr einhundert Metern sollte sich eine Wegkreuzung auftun, welcher du nach links folgst. Dann ist es ganz einfach; folge dieser Straße einfach, bis du das braune Schulgebäude siehst. Ab da findest du den Weg bestimmt."

Immer wieder ging ich die Wegbeschreibung durch, die mir Herr Perkins hektisch erläutert hatte; voller Panik, dass ich sie verlieren möge.

Hauptstraße, Rechts, Links, Geradeaus.

Was, wenn ich in die falsche Straße abbog? Würde ich dann den Weg zurückfinden? Wollte ich das überhaupt?

Voller innerer Fragen trabte ich den Fußgängerweg entlang, der sich an die Hauptstraße schmiegte. An mir vorbei tuckerten Autos, liefen kleine Kinder und humpelten Senioren, sodass man meinen könnte, ich befände mich auf einem fröhlichen Gemeindefestplatz. Doch dem war nicht so.

Die Sonne brannte auf meine Stirn und Schweißperlen tropften mir in die Augen. Allein der bisher zurückgelegte Weg traf mich schwerer als gedacht. Hatte ich mir doch zu viel vorgenommen? War ich einfach noch nicht stark genug?

Auf einmal hörte ich ein Flattern; doch bevor ich mir weitere Gedanken um den Ursprung dieses Geräusches machen konnte, landete vor mir ein Vogel. Vollkommen verdutzt und verwirrt über seine fehlende Scheu blieb ich ruckartig stehen und beobachtete das kleine Wesen vor mir. Es hatte einen roten Kranz vom Schnabel bis zum Hals, was ihm ein eigenartiges Aussehen verlieh, und war ansonsten cremefarben bis braun gefiedert. Es sah aus, als stände sein Kopf in Flammen.

Der Vogel wich nicht von mir, als ich näher trat, und auch beim Hinunterknien scheute er nicht; eher schien er interessiert an meiner Person. Das war so ungewohnt, dass ich vergaß, weiterzugehen und mich auf die anstehenden zwei Schulkurse zu konzentrieren. Da war nur noch der Vogel, der meine ganze Konzentration abverlangte.

"Du bist merkwürdig, weißt du das?"

Er kam näher und begann, an meinen Knien zu knabbern.

"Hey", lächelnd stupste ich ihn in die Seite. "Das macht man nicht."

Das schien er zu verstehen, denn er biss mich nicht mehr; stattdessen hüpfte er auf meinen linken Oberschenkel und schien mich zu begutachten.

"Was für eine Art Vogel bist du?"

Ich wusste, dass er nicht antworten würde, doch es tat gut, mit jemandem zu sprechen, der nicht widersprach oder mich hinterfragte, nur um mich mit einem schlechten Gefühl stehen zu lassen.

"Hast du vor, bei mir zu bleiben?"

Es schien so, denn er flatterte nur kurz mit den Flügeln und landete federleicht auf meiner rechten Schulter.

"Ich muss zur Schule, da darfst du nicht mit."

Das schien ihn nicht zu interessieren.

"Den Weg dorthin darfst du mich noch begleiten, wenn du möchtest, ja? Dann bin ich auch nicht so alleine."

Mit diesen Worten stand ich auf, immer darauf bedacht, dem kleinen Vogel auf meiner Schulter kein Leid zuzufügen, und setzte meinen Weg fort. Während unserer Reise wanderte er immer wieder über meinen angewinkelten Arm zu meinem Handgelenk und zurück, wobei mir nicht entging, wie wunderschön er war. Durch seine Flinkheit fiel es mir schwer, einen Moment festzuhalten, doch die Sonne, die ständig in sein feuerrotes Gefieder schien, lies dieses regelrecht erstrahlen. Es sah geradezu aus, als hätte die Sonne ihn in Flammen gesetzt.

Sol. Der römische König der Sonne.

"Was hältst du davon, wenn ich dich Sol nenne? Ich finde es schön."

Bald trafen mein neuer Freund Sol und ich auf das von Herrn Perkins beschriebene Tor, an dem ich rechts abbog und die sich nun vor mir auftuende Straße argwöhnisch abschätzte. War ich überhaupt sicher? Dies war das erste Mal seit meiner Einweisung, dass ich einen Fuß außerhalb des Klinikgeländes gesetzt hatte. Ich hatte keine Angst, jedoch nahm wage Unsicherheit meinen Körper ein und setzte es kurzzeitig außer Gefecht.

Nach einigen unsicheren Schritten nahm meine Tempo allerdings wieder an Geschwindigkeit auf und ich konzentrierte mich nur noch auf das, was nun vor mir lag.

Ich würde in die Schule gehen.

Eine Klinikschule und dem heutigen Plan nach auch nur zu zwei Kursen, doch ich würde in die Schule gehen.

"Nach ungefähr einhundert Metern sollte sich eine Wegkreuzung auftun, welcher du nach links folgst."

Ich hatte sie tatsächlich erreicht, ohne mich zu verirren. Mein Herz machte einen kurzen Hüpfer, als ich meinen Gang nach links richtete und dem erdigen Weg folgte, auf dem ich mich dadurch befand. Es wirkte friedlich hier; links befand sich eine spärlich bewachsene Schonung und rechts von mir lagen mehrere kleinbürgerliche Schrebergärten, die fein säuberlich aneinandergereiht waren, als wären ihre Grenzen mit einem Lineal gezogen worden. Sofort fühlte ich mich an meine Familie erinnert.

Heute war Dienstag, somit stand morgen der Besuchstag an, den vermutlich auch meine Eltern wahrnähmen. Ich würde meinen früher alltäglichen, personifizierten Qualen wieder ins Gesicht blicken müssen, doch ich wollte es nicht. Was würde meine Mutter sagen, wenn sie mich sah?

Wann hast du dir das letzte Mal die Haare gewaschen?

Oje, Scarlett! Wie siehst du denn aus?

Hör endlich auf, dir ständig an den Fingernägeln herumzufummeln.

Und mein Vater? Er würde höchstwahrscheinlich nichts sagen und schweigen, während meine Mutter über mich herzog.

Vielleicht hin und wieder beipflichtend nicken oder etwas Halbherziges sagen, das unterstützend gemeint war, doch bringen würde sein Besuch nichts. Meine Mutter hingegen könnte mit ihrem Besuch bei mir einiges bewirken, denn danach würde ich mich tagelang schrecklich fühlen und in meinem Zimmer verkriechen. So wie auch zuhause, wenn sie sich mir vorknöpfte und ihre eigene Tochter durch verbale Äußerungen bluten ließ.

Flügelflattern riss mich aus der geistlichen Dunkelheit, denn Sol flog wirr und scheinbar hektisch um meinen Kopf.

"Was ist denn, Sol?"

War ich auf einen seiner Artgenossen getreten?

Doch er beruhigte sich nicht und flog nur weiter um mich herum, bis ich begriff. Wir waren angekommen.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt