Kapitel 54

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Mein Herz setzte aus.

"Hast du sie genommen?", hakte Frau Foxworth nach und penetrierte Herrn Bennett geradezu mit ihrem Blick, sodass nichts mehr von der zuvor leicht verspielten Flirtatmosphäre zwischen den beiden übrig war.

"Nein, ich weiß auch nichts darüber. Steht irgendetwas im Protokoll? Vielleicht gab es einen Notfall und jemand brauchte die Sachen dringend?"

"Das wäre uns aber mit Sicherheit gesagt worden."

Mittlerweile waren Frau Foxworths Wangen puterrot und sie musterte alle Patienten mit einem so durchdringenden Starren, dass jeder möglichst beschäftigt zu wirken versuchte und darauf achtete, nicht ein einziges Mal in ihre Richtung zu blicken. Keiner sprach ein Wort und die hohen Wände des Gruppenraums hallten das Schweigen wider.

Vorsichtig lenkte ich meinen Blick von meinem benutzten Geschirr und richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen auf Evelyn, die mit eng an ihren Körper geklemmten Armen in der hintersten Ecke der Küche stand und sich hinter dem hervorragenden Gewürzregal zu verstecken versuchte. Ihre Hände zitterten, doch sie versuchte verzweifelt, sich an einen Türgriff zu klammern, damit ihre Unsicherheit Frau Foxworth nicht ins Auge sprang.

"Alle herkommen!"

Während die restlichen Patienten sich brav und etwas eingeschüchtert an Frau Foxworths Anordnung hielten und in Reih und Glied aus der schlauchartigen Küche trotteten, schloss ich die Augen und atmete tief durch.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Sie konnten mir nichts nachweisen, doch Evelyns Arme würden sie verraten. Was plante Frau Foxworth nun? Würde sie von uns verlangen, unsere Gliedmaßen freizumachen? Durfte sie das überhaupt?

Irgendwie beschlich mich das mulmige Gefühl, dass es Frau Foxworth nicht kümmerte, ob sie etwas mit uns anstellen durfte oder nicht. Herr Bennett wäre schon eher derjenige, der dazwischenfunken würde, sobald sie zu weit ging, doch mittlerweile setzte ich mein Vertrauen in niemanden mehr.

Behutsam griff ich nach Evelyns Handgelenk, da sie sich noch immer nicht gerührt hatte und sich eher noch weiter in der Unordnung der Küche zu verstecken versuchte, und geleitete sie unauffällig zu den anderen, damit wir kein Aufsehen erregten und somit Frau Foxworths Zorn auf uns zogen.

"Hat jemand von euch etwas hiermit zu tun?", herrschte Frau Foxworth uns an, sobald wir in einer Linie vor ihr standen, und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den zerwühlten Kofferinhalt. "Es fehlt das Verbandszeug und wenn andere Betreuer oder Ärzte es genommen hätten, wären wir informiert worden. Also bleibt nur eine Schlussfolgerung übrig; es muss jemand von euch gewesen sein."

Mit diesen Worten sandte sie jedem von uns persönlich einen elektrisch blitzenden Stromschlag in Form eines vorwurfsvollen Blickes, der jedes unserer Herzen schneller schlagen ließ.

In diesem Moment fühlte ich mich schuldig.

Schuldig, weil ich niemandem etwas von Evelyns Problemen erzählt hatte.

Schuldig, weil die anderen Patienten wegen mir nun diesen Stress durchleben mussten.

Schuldig, weil Frau Foxworth ihren Blick besonders lange über mir schweben ließ, bevor sie Fay ausgiebig musterte.

Möglichst unauffällig wagte ich es, in Evelyns Richtung zu schielen, die mit leerem Blick den Boden unter ihren Füßen zu mustern schien. Nur ihr zitternder Kiefer verriet ihre eigentliche Angespanntheit und Nervosität, doch außer mir schien es niemand mitzubekommen. Obwohl Frau Foxworth bereits jeden einzelnen von uns zur Genüge betrachtet und eingeschüchtert hatte, lag noch immer Schweigen über dem Gruppenraum wie ein dunkler, schwerer Vorhang, der nicht mehr den Blick auf den Rest der Welt freigeben wollte.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt