Kapitel 32

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"Auf Wiedersehen, Sol. Hoffentlich treffen wir uns bald wieder", flüsterte ich meinem Freund zu, bevor er sich flügelflatternd von mir verabschiedete. Schon war er verschwunden und ich wieder allein.

Noch immer voller Verwunderung über das merkwürdige Verhalten dieses besonderen Vogels lehnte ich mich gegen die schwere Eichentür, die den Eintritt in die Schule hütete. Nach einigen Versuchen gelang es mir endlich, sie aufzudrücken, und ich fand mich in einem dunklen, muffig riechenden Treppenhaus wieder. Ein kleines, gelblich angelaufenes Schild wies mich darauf hin, dass sich die Klinikschule im ersten Obergeschoss befand, also machte ich mich voller Erschöpfung auf den Weg.

Die Stufen knarrten und mir wurde immer wieder schwindelig, doch ich ging einfach weiter die Treppen hoch, während ich wortwörtlich die Zähne so fest zusammenbiss, wie ich nur konnte. Ich würde Herrn Perkins keinen Grund geben, sich als allwissend zu behaupten, diese Treppe durfte doch kein Hindernis für mich sein!

Als ich schließend schweratmend am Kopf der Treppe angekommen war, konnte ich endlich eine Verschnaufpause einlegen und wieder einigermaßen zu meiner alten Kraft zurückfinden. Erst nach einigen Momenten der Stille blickte ich auf und musterte eine weitere Doppeltür, die sich bedrohlich vor mir auftat.

Das war ein Scherz, oder?

Sobald ich jedoch diese letzte Barriere überwunden hatte, begrüßte mich ein munteres Treiben, das ich hinter diesen hohen Mauern niemals erwartet hätte. Schüler und Lehrer fanden sich in ihren Klassenräumen ein, denn eine weitere Schulperiode schien anzufangen.

Beim Beobachten dieser bunten Menge fiel mir auf, dass besagte Klassenräume tatsächlich sehr klein waren und sich somit an die Gruppen anpassten, die allenfalls aus drei, meistens jedoch nur zwei Patienten bestanden. Auch wenn mich dieser Zustand erleichterte, hatte ich gleichzeitig Angst vor meinen Gruppen.

Was, wenn ich mit einem meiner zukünftigen Mitschüler nicht zurechtkommen würde?

Oder ich etwas Falsches sagte und jemand lachte?

Meine Zweifel wurden unterbunden, als ich mich eine untersetzte, rotwangige Frau ansprach. Sie schien in ihren Fünfzigern zu sein und hatte braune Locken, die ihr gerade einmal bis zu den Ohren reichten, was ihr rundes Äußeres noch mehr betonte.

"Bist du Scarlett?"

"Ja."
"Ah, gut. Kommst du dann mit?"

Ohne ein weiteres Wort oder eine Begrüßung wand sie sich von mir ab und wackelte den schmalen Gang entlang, den sie in der Breite fast komplett ausfüllte. Mühsam quetschten sich einige verspätete Schüler an ihr vorbei, doch das schien ihr gar nicht aufzufallen.

"Wir sind da. Das ist mein kleines Reich, tritt ein."

Vorsichtig zwängte ich mich an ihrer Oberweite vorbei und befand mich auf einmal in einem dunkel getäfelten Raum, der von ebenso dunklen Möbeln gefüllt wurde. Alles war sehr ordentlich und ohne viel Dekoration.

Plötzlich sah ich eine zusammengesunkene Gestalt am großen Tisch in der Mitte des Raumes sitzen, die wirkte, als wäre sie gerade gerne irgendwo anders. Nach kurzer Musterung erkannte ich Arlene, meine Stationsmitbewohnerin.

"Ihr kennt euch schon, oder? Scarlett und Arlene, beide anwesend", murmelte sie mehr zu sich selbst, als sie ein Stück Papier aus einem Stapel hervorzog und Kreuzchen hinter unseren Namen setzte. "Also, wir sind hier eine Zweiergruppe, das heißt, ihr seit die einzigen Schüler in diesem Kurs."

Dabei drängte sich mir eine Frage auf.

"Was für ein Fach unterrichten Sie eigentlich? Tut mir Leid, aber die Entscheidung zum Schulbesuch fiel bei mir sehr kurzfris-"

"Kein Problem, alles in Ordnung. Das ist also deine erste Stunde überhaupt?" Ich nickte. "Dann kann ich dir auch gleich deinen Schulplan ausdrucken, wenn du möchtest."

Auf ein weiteres Nicken meinerseits drehte sie sich mühsam auf ihrem Stuhl um und tippte einige Minuten schwerfällig auf einem älteren Computermodell herum, bevor schließlich das Druckergeräusch ertönte. Arlene verlor in der Zwischenzeit kein Wort.

"So, hier bitte schön. Ach, ich habe vergessen mich vorzustellen. Ich bin Frau Jenkins und von nun an deine Mathelehrerin. Wir haben dreimal die Woche einen Kurs miteinander, so wie bei jedem anderen Fach auch. Abgesehen von Mathematik unterrichten wir hier auch noch Gemeinschaftskunde und Englisch; mehr nicht, damit ihr auch noch Zeit für eure Therapien habt."

Zeit für eure Therapien.

Die meiste Zeit saß ich einfach nur in meinem Zimmer und langweilte mich; Therapie machte nur einen sehr kleinen Teil meines eigentlichen Klinikalltags aus, aber ich hielt mich zurück; das konnte sie ja nicht wissen.

"So, dann beginnen wir mal", begann Frau Jenkins ganz förmlich die Stunde, und ich ließ mich für die restliche Stunde vom Strom mitschwemmen. Nebenbei lugte ich auch immer wieder auf meinen Schulplan, um mir ein Bild von dem zu machen, was noch vor mir lag. Heute stand noch Englisch mit Herrn Folk auf dem Plan und morgen würde ich wieder Mathematik und dann schließlich auch das erste Mal Gemeinschaftskunde bei Frau Schiller haben.

Wer in diesen Kursen wohl meine Klassenkameraden sein würden?

Arlene jedenfalls war unkompliziert, beunruhigte mich jedoch durch ihre absolute Stille. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich sie bisher kaum hatte sprechen hören, auch nicht im Gruppenraum oder am Esstisch. Sie schwieg durchgehend.

Schließlich hatte ich die erste Schulstunde seit mehreren Monaten mehr oder weniger erfolgreich hinter mich gebracht und machte mich nach einer flüchtigen Verabschiedung von Frau Jenkins auf den Weg zu meinem nächsten Klassenzimmer.

Es war merkwürdig, einfach so ins kalte Wasser eines einigermaßen normalen Schulalltags geworfen zu werden, und die vielen Menschen, die sich im schmalen Flur eng aneinanderdrängten, um zu ihren Klassenräumen oder zurück zur Klinik zu kommen, machten mir Angst. Nach Minuten des Wahnsinns, bei dem ich des Öfteren das Gefühl bekommen hatte, ich würde jeden Moment den Kopf verlieren, war ich also endlich bei meinem nächsten Klassenraum angekommen, an dessen Tür ich sogleich von Herrn Folk begrüßt wurde. Die Gruppe teilte ich mit einem Jungen und einem Mädchen, die beide in meinem Alter waren und sich zu kennen schienen; daher war ich sofort ausgeschlossen. Doch das störte mich nicht weiter, denn so blieb mir genug Zeit zum Nachdenken.

Der Englischunterricht war unspektakulär und etwas langwierig, doch trotzdem ging es mir beim Verlassen des Raums gut.

Ich hatte es geschafft. Mein erster Schultag seit langer Zeit lag nun hinter mir und ich hatte ihn ohne eine große Panikattacke absolviert. Auch wenn ich keinen Stolz auf mich empfand, fühlte ich mich etwas leichter, als ich mir meinen Weg zum Ausgang bahnte.

Das muffige Treppenhaus brachte ich so schnell es ging hinter mir, um dem Gestank zu entkommen, doch vor der Schule an sich floh ich nicht. Es war ein guter Tag gewesen, denn ich hatte etwas getan. Irgendetwas.

Die Sonne blendete mich, als ich nach draußen trat, doch ich ignorierte die kleinen Stiche, die sie auf meiner blassen Haut hinterließ, und versuchte, mich zu orientieren. Es war noch einmal etwas Anderes, den Rückweg zu finden, und auf einmal sah das ganze Gelände um mich herum ganz anders aus als zuvor.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Ich durfte keine Panikattacke bekommen, nicht jetzt!

"Seien Sie gegrüßt, junges Fräulein. Sie sehen aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen. Soll ich Ihnen meine Hand reichen und Sie sicher nach Hause geleiten? Dieses Gebiet ist nicht sicher für eine solch zarte Dame."

Der sarkastische und leicht verspielte Unterton kam mir sofort bekannt vor, doch als ich mich umdrehte, konnte ich auch endlich die Quelle dieses ironisch geschwollenen Satzes erkennen.

"Flint?"

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt