Kapitel 94

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Ein Buch. Ich hatte einen Kinderroman über Elfen geschenkt bekommen.

"Dankeschön." Mein Lächeln wirkte erzwungen, das wusste ich, doch etwas Überzeugenderes brachte ich nicht zustande. Ich war die Letzte, die ihr Geschenk ausgepackt hatte, und alle Blicke lagen auf mir, erwarteten eine freudige Reaktion. Meinen Weihnachtsmorgen hatte ich mir anders vorgestellt.

Neben mir unterdrückte Alvin, der seinem Wunsche entsprechend Zeichenpapier erhalten hatte, einen Lachanfall. Hinter seinen vorgehaltenen Händen verrieten gerötete Wangen, wie unheimlich amüsant er das Ganze fand. Das würde er doppelt zurückbekommen – und doch musste ich zugeben, dass ich mich selbst nicht wirklich zwischen Lachen und Weinen entscheiden konnte.

"So, wollen wir dann abdecken?", rief Esther in die Runde und setze ein festliches Lächeln auf. "Wir können gleich zusammen einen Weihnachtsfilm gucken, wenn ihr denn möchtet. Davor bekommt ihr noch die Briefe."

Die Briefe?

Eine Vorahnung ließ mich erschaudern und bereitete mir ein Schwindelgefühl. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht–

"Scarlett, kommst du kurz ins Büro?"

Mein Herz rutschte mir in die Hose.

"Ich übernehme dein Geschirr, kein Problem", flüsterte mir Alvin zu, auch wenn sein Blick dem meinen ähnelte. Warum wurde ich mal wieder gesondert behandelt? Hatte ich etwas verbrochen? Mich falsch verhalten? War meine Reaktion auf das Geschenk wirklich so unangebracht gewesen? Hätte ich mich mehr freuen sollen?

Doch Esthers Augen strahlten wie immer pure Wärme aus, als ich mich ihr gegenüber in der blau gepolsterten Sitzecke im Betreuerbüro niederließ. Schnell legte sich eine bedrückende Stille über den Raum, während vor der Tür vereinzelte Stimmen über die Filmauswahl diskutierten. Das einzige Geräusch, das die Atmosphäre immer wieder durchbrach, war das Quietschen des Holzgerüsts, auf dem ich saß. Wie unangenehm.

"Keine Sorge, du hast nichts Schlimmes angestellt", begann Esther mit einem schalkhaften Lächeln. Sie hatte keine Ahnung, welche Erleichterung diese Worte für mich darstellten. "Ich würde dir den Brief nur gerne überreichen, wenn nicht jeder mitbekommen kann, was drinsteht. Am besten liest du ihn dir erst einmal durch, dann können wir darüber reden, wenn du möchtest."

Meine Eingeweide krampften sich zusammen. Am liebsten wäre ich schreiend aus dem Raum und der Station gerannt, doch ich konnte nicht. Durfte nicht.

Stattdessen nickte ich und nahm einen tannengrünen Umschlag entgegen. Er fühlte sich samtig an und war mit rostroten, weihnachtlichen Applikationen versehen – typisch für meine Mutter. Für sie musste es immer das Beste vom Besten sein. Der Groll, der in mir brodelte und sich immer sicherer den Weg zu meinem Kopf bahnte, übernahm die Kontrolle und ließ mich die edle Verpackung einfach aufreißen. Grobkörniges, champagnerfarbenes Briefpapier erwartete mich. Spätestens jetzt war klar, dass mein Vater keinerlei Beteiligung an diesem Geschenk hatte.

Es fiel mir schwerer als gedacht, den Brief zu lesen. Allein mein Name in ihrer geschwungenen, eleganten Schrift bereitete mir eine Gänsehaut. Ein Blick nach oben bestätigte, was ich bereits vermutet hatte: Esther musterte mich mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck. Wusste sie, was in diesem Brief stand?

Ich würde es erst herausfinden, sobald ich endlich mit dem Lesen begann.

Scarlett,

bitte entschuldige die Funkstille der vergangenen Zeit. Ich könnte sie damit entschuldigen, dass der Besuch auf deiner Station nur unter besonderen Umständen erlaubt wird, oder dass die Intensivstation mich nicht zu dir lassen wollte, egal wie sehr ich darum gebeten hatte, doch dann würde ich dich anlügen. Ich hätte jederzeit zu dir kommen können; das Krankenhaus hatte mir sogar ein Bett auf deinem Zimmer angeboten, doch ich konnte einfach nicht.

Ich konnte dir nicht ins Gesicht sehen nach dem, was du getan hast, und dafür möchte ich mich entschuldigen. Es steht mir nicht zu, dich für das, was passiert ist, bestrafen zu wollen. Du kannst nichts dafür, das verstehe ich jetzt. Deine Erkrankungen hindern dich, nicht du selbst.

Ich vermisse dich. Nicht nur das vierjährige, immer lächelnde Mädchen, das jeden Morgen in unser Bett gekrabbelt ist und mit mir gekuschelt hat, als würde sie mich nie wieder hergeben wollen. Nicht nur die Sechsjährige, die mir voller Stolz ihre ersten Hausaufgaben gezeigt hat und nachts heimlich zum Naschen in die Küche geschlichen ist. Nicht nur die achtjährige Schülerin, die Bestnoten geschrieben und ihren älteren Bruder in so vielen Dingen übertrumpft hat. Ich vermisse DICH. Und es tut mir Leid, dass ich dir durch mein Verhalten Gegensätzliches übermittelt habe.

In den nächsten Tagen habe ich viel freie Zeit. Wenn du möchtest, aber auch nur, wenn du wirklich möchtest, würde ich dich gerne sehen. Die Möglichkeiten habe ich bereits mit einem deiner Betreuer (Esther?) abgesprochen. Ich wäre unbeschreiblich glücklich, wenn du dich in Ruhe mit mir hinsetzen und reden würdest – es gibt viel zu besprechen und einiges, für das ich mich bei dir entschuldigen muss.

Deine dich liebende Mutter

Der letzte Absatz passte perfekt auf den übrigen Platz der Rückseite und schloss in einer verschnörkelten Blume. Ich löste meinen Blick von der dunkelblauen Tinte, wollte ihr Geschriebenes verarbeiten, doch mir blieb keine Zeit zum Nachdenken.

"Was denkst du? Bist du bereit, sie zu sehen?"

Mein Kopf schwankte von rechts nach links, bevor ich ihre Worte überhaupt verarbeitet hatte.

"Nein, also ich meine–", sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihr, während ich die Worte meiner Mutter immer wieder überflog. Kein Wort von meinem Vater oder Bruder. "Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht."

Der warme und schwere Geruch, der von Esthers Kaffeetasse ausging, betäubte jegliche meiner Sinne. Sollte ich es wirklich wagen? Vielleicht würde sie sich gemäß ihren Worten entschuldigen und sich mir als eine vollkommen neue Person präsentieren? Oder würde dieses Treffen nur einen weiteren unnötigen Rückschlag bedeuten, wo ich mich doch gerade erst einigermaßen auf Neptun eingefunden hatte?

Andererseits würde ich mir diese Fragen nie beantworten können, wenn ich es nicht endlich wagte und über meinen Schatten sprang. Immerhin konnte ich meiner Mutter nicht für immer und ewig fernbleiben. Je früher die Aussprache stattfand, desto besser für mich. Oder?

"Wann hat sie denn Zeit?"

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt