Kapitel 93

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"Wie wo was wann warum?"

Evelyns Mund verwandelte sich in einen Strom an Worten und Lauten, die ich nur schwer entziffern konnte. Sofort begann sie wieder zu schluchzen und schloss mich erneut in ihre Arme, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich erwiderte ihre Umarmung, schloss die Augen und legte mein Kinn auf ihre Stirn, die sie in meine Halsbeuge gepresst hatte. Ihre Tränen befeuchteten meinen Hals und einzelne Tropfen bahnten sich ihren Weg zu meinem Schlüsselbein. Doch das störte mich nicht, denn es waren ihre Tränen. Evelyns Tränen. Endlich konnte ich sie wiedersehen, nach so vielen Wochen der Funkstille!

"Das wird schrecklich klischeehaft klingen, aber es ist wirklich eine lange Geschichte", begann ich und wurde prompt von einer Mischung aus Lachen und Weinen unterbrochen. Dennoch bemühte sich Evelyn, ihre Kontenance zu bewahren, und atmete tief aus ein.

"Wie lang denn genau?" Ihre Augen funkelten vor Tränen und Neugier.

"So lang, dass es meine Ausgangszeit überschreiten würde. Ganz abgesehen davon, dass Esther mich unerlaubt zu euch gelassen hat. Eigentlich sollten wir als Station ja unter uns bleiben."

Evelyns Lächeln verlor sich in der Erkenntnis um meinen Aufenthaltsort. Doch anstatt eine Mitleidsmiene aufzusetzen, blieb ihr Blick abwartend. Dafür liebte ich sie einfach. Wenn ich von einer Person erwarten konnte, genau richtig mit meiner Situation umzugehen, dann wohl Evelyn. Die Erinnerungen an ihren Zusammenbruch im Badezimmer und meine darauffolgende unerlaubte Rettungsaktion sandten noch immer eine Gänsehaut über meinen Rücken.

"Neptun", murmelte sie mehr zu sich selbst als zu mir und beobachtete den Rest meiner Gruppe, der sich zwar weiterbewegt hatte, aber immer in Sichtweite blieb. Immer wieder warf Esther einen Blick zu uns, als wolle sie sicherstellen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Mein Lächeln in ihre Richtung bestätigte sie.

"Ja."

"So ne Scheisse."

"Ja."

"Willst du drüber reden oder...?" Ihr Blick suchte den meinen, wirkte unsicher, gespannt.

"Nicht jetzt, dafür bleibt uns nicht genügend Zeit. Aber mir geht's jetzt wieder gut, versprochen", log ich.

Oder sagte ich doch die Wahrheit? Ich wusste es ja selbst nicht einmal. Vor wenigen Sekunden ging es mir in Evelyns Armen noch so gut wie seit Monaten, vielleicht sogar Jahren nicht mehr. Jetzt schob sich allerdings die Realität langsam wieder zurück in mein Sichtfeld. Ich würde hier nicht lange bleiben können, musste wahrscheinlich jede Sekunde wieder zurück zur Gruppe. Und doch...

"Das ist schön, wirklich. Du siehst auch ziemlich gut aus, jedenfalls nicht ganz so mies wie zu deinen Zeiten auf Jupiter", stellte sie abschätzend fest und bedachte mich mit einem sarkastischen Lächeln. Augenblicklich schob eine Sonne an Optimismus den dunklen Schatten der Realität aus meiner Welt und ließ alles in Regenbogenfarben erleuchten.

"Evelyn und Sarkasmus oder Witz? Hätte nie gedacht, diese Worte mal in einem Satz zu sagen."

Als Antwort kassierte ich einen sanften Schlag in die Schulter, den ich lediglich schmunzelnd hinnahm, während mein Blick über die entfernten Klinikgebäude glitt. So viele erniedrigende, dunkle Erinnerungen waren mir wortwörtlich so nah und doch konnte ich hier stehen, sie für einen Moment außer Acht lassen und aufrichtig lachen. Das Leben war abstrus.

"Gib mir wenigstens eine Kurzfassung, damit ich ruhig schlafen kann", flüsterte Evelyn mir zu und rückte näher zum Fahrradständer, an den ich mich gelehnt hatte, um Arthur und Caroline noch weiter abzuschirmen. "Was ist damals in deinem Zimmer passiert? Wir wurden in unsere Zimmer gesperrt und haben nichts, aber auch gar nichts mitbekommen. Du ahnst gar nicht, welche Sorgen ich mir gemacht habe. Ich hatte solche Angst um dich, bin sogar vom Schlimmsten ausgegangen, auch wenn Herr Bennett gesagt hat, du wärst verlegt worden. Ich meine: verlegt?! Was ist das denn bitte für eine Aussage. Klar, Schweigepflicht und so, aber ich bin irgendwann sogar davon ausgegangen, man hätte dich für Experimente oder so verschleppt und–"

Ich unterbrach sie mit einer simplen Handbewegung.

"Du kannst ja mal nachfühlen, ob mir im Genick ein Chip eingepflanzt wurde, aber ich habe davon ganz sicher nichts mitbekommen", sagte ich amüsiert und musterte ihr vor Erregung und Frust ganz rot angelaufenes Gesicht. Mein Humor versickerte jedoch beim Gedanken an das, was ich ihr nun erklären musste.

"Und was ist dann passiert? Ich bin auch ganz dezent und unauffällig, du kannst mir alles sagen. Mittlerweile bin ich ziemlich abgehärtet, glaube ich."

Für einige Sekunden genoss ich die Stille der Natur um uns herum, beobachtete die im Wind schwankenden Baumkronen und genoss die frische Luft, die an meinen langen Haaren zerrte. Ein Sturm zog auf und ich konnte es kaum abwarten.

Keine Lügen. Keine Beschönigungen. Einfach nur die rohe und hässliche Wahrheit.

"Ich habe versucht, mich umzubringen. Mit der Klinge, die ich dir damals weggenommen habe. Hat nicht funktioniert, wie du siehst."

Neben mir ertönte ein Geräusch, als hätte Evelyn sich an etwas verschluckt.

"Dezent und unauffällig geht aber anders", witzelte ich und startete einen erbärmlichen Versuch, die Stimmung zu lockern, doch Evelyns Blick war starr auf unsere Schuhe gerichtet. Ihre Augenbrauen zogen sich mit jeder Sekunde weiter zusammen und sie wirkte, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

Das Ganze hätte ich auch sanfter angehen können, das wusste ich, doch in diesem Moment hatte es sich für mich richtig angefühlt. Warum sollte ich um den heißen Brei herumreden? Es brachte letztlich doch sowieso nichts und verschleierte die Wahrheit nur. Dennoch säte Evelyns Anblick Zweifel in mir. Wäre es vielleicht doch besser gewesen, ihr das Detail mit der Klinge zu verschwiegen?

Doch auf einmal atmete sie tief durch und öffnete ihre Augen. Kein Tränenschimmer war zu sehen, kein unterdrückter Schmerz oder drohende Fehlinterpretationen verschleierten ihren Blick.

"Danke", flüsterte sie, ihre Stimme heiser und gedämpft. "Dankeschön, dass du mir das gesagt hast. Und dass du ehrlich warst."

Plötzlich war es, als wäre ein Trauerschleier über uns gelüftet worden. Sie lächelte mich an und ich lächelte zurück. Keine versteckten Fakten oder gutgemeinte Lügen – wir wussten beide, dass wir das einander schuldeten. Evelyn verdiente es, die Wahrheit zu hören.

Ein Winken in der Entfernung riss mich aus meinen Gedanken und bestätigte meine böse Vorahnung. Es war Esther, die mich zurück zur Gruppe bat. Evelyn verstand.

"Schreite fort, treue Freundin. Auf dass wir uns eines Tages wiedersehen."

Ihre Bemerkung beachtete ich lediglich mit einem gespielt säuerlichen Blick, der sie abermals zum Lachen brachte. Diese Evelyn gefiel mir so viel besser als das stille, unsichere und in sich zurückgezogene Mädchen, das ich noch vor einigen Monaten zu kennen glaubte. In mir wuchs das wohlig warme Gefühl, dass sie mehr und mehr zu sich selbst fand.

So wie ich.

Der Abschied fiel mir noch schwerer als erwartet. Nicht nur Evelyn, sondern auch Arthur, der mir unsicher zulächelte, waren mir während meiner Zeit auf Jupiter derart ans Herz gewachsen, dass es sich anfühlte, als würde ich einen Teil meiner Familie zurücklassen müssen – eine Familie, die ich mir aussuchen konnte. Selbst Caroline, mit der ich nur wenig Kontakt hatte, weckte mit ihren hüftlangen roten Haaren und der stets strengen Miene Erinnerungen an eine Zeit vor der Katastrophe. Eine Katastrophe, die mein Leben auseinanderbrach und durcheinanderwürfelte, sodass ich jetzt damit beschäftigt war, die Teile wiederzufinden und zusammenzusetzen. Es war das schwierigste Puzzle meines Lebens.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt