Kapitel 77

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"Ihr seid irgendwie merkwürdig."

Gute fünf Minuten hatte es meinen Bruder gebraucht, bis dieser Satz endlich seine Lippen verließ. Aus dem Augenwinkel erspähte ich Flints Profil, in dem seine Mundwinkel kaum bemerkbar nach oben huschten und ein Lächeln erahnen ließen. Es schien ihm zu gefallen, dass Jonathan sich wie ein Außenseiter fühlte, und ich hätte es ihm übelgenommen, wenn es mir nicht auf eine unerklärbare Art und Weise genauso ginge. Das hier war unser Platz und es hätte ohne meine Vergesslichkeit nur ein Treffen unter vier Augen gegeben, doch mit meinem fast schon fremden Bruder neben mir fühlte sich die Natur mit ihren wunderschönen Farben und einnehmenden Geräuschen nur halb so fesselnd an, wie ich sie in Erinnerung behalten hatte.

Beinahe synchron drehten Flint und ich unsere Köpfe zu Jonathan, der sich augenblicklich zu rechtfertigen versuchte.

"Also, nicht auf eine negative Weise!", stotterte er ungelenk und fuchtelte mit seinen Händen in einem verzweifelten Versuch, seine Gedanken offenzulegen. "Ich, ähm, ich hätte nur nicht gerechnet, dass ihr hier einfach nur ... sitzen würdet."

"Dachtest du, wir würden leidenschaftlich miteinander rummachen und uns die Kleider vom Leib reißen, nur weil sie weiblich ist und ich männlich?"

Flints monotone und typisch ungefilterte Antwort ließ mir das Blut in den Kopf schießen, doch auch Jonathan schien mehr als verblüfft über seinen unverblümten Kommentar.

"Oh Gott, nein! Ich meine, das ... nein, einfach nein", unterbrach er sich selbst und kratzte sich nervös am Hinterkopf. Ich konnte merken, wie er wünschte, seine vorherige Bemerkung einfach zurücknehmen zu können, doch das war ihm nun nicht mehr möglich. "Tut mir Leid, das habe ich wirklich nicht so gemeint."

"Mach dir darum bitte keine Gedanken, es ist schon in Ordnung", erwiderte ich mit einem gutgemeinten Lächeln, doch innerlich wäre ich am liebsten der Szenerie entflohen und hätte mich in meinem Zimmer verkrochen.

In unser Zimmer. Immer wieder hatten die Betreuer in den vergangenen Wochen Versuche unternommen, Sams Habseligkeiten aus dem Raum zu entfernen, um ihren Aussagen nach ein neues Kapitel in meinem Heilungsprozess aufzuschlagen, doch hatte ich mich jedes Mal leidenschaftlich dagegen gewehrt. Sie taten das nicht für mich, sondern nur für sich. Für die Klinik und damit schon bald eine neue Mitbewohnerin Sams Zimmerseite beziehen könnte. So egoistisch das auch klingen mochte, wollte ich verhindern, dass dies geschah. Sam war nicht erfolgreich oder zumindest so weit therapiert worden, dass man sie guten Gewissens entlassen und auf den Weg in ihr neues Leben geschickt hatte. Sie war gestorben. Tot. Erloschen. Ihre Therapie war nie beendet worden.

"Und ... wie lange sitzt ihr dann hier so?"

Die Stimme meines Bruders brach immer wieder und er musste sich räuspern, was die unangenehme Stimmung zwischen uns dreien nur noch verstärkte.

"Wir achten nicht auf die Zeit. Das ist der ganze Sinn dahinter. Wenn wir keinen beschränkten Ausgang hätten, würden wir vermutlich den ganzen Tag hier verbringen", erwiderte Flint knapp und mit einem Tonfall, der mir eine unbehagliche Gänsehaut bereitete. Wie es Jonathan erging, wollte ich mir nicht ausmalen.

"Klar, verstehe ich."

Er verstand nicht.

Nach wenigen Augenblicken hielt ich es nicht mehr aus. Mein Körper erhob sich wie von allein und entfernte sich von dem kleinen See, der einst mein Zufluchtsort gewesen war. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, meinen Bruder hierhin mitzunehmen? Ihn so nahe an mich zu lassen? Doch nicht nur meine Verbindungen mit diesem Ort waren in dem Moment gekappt, als ich Jonathan an den Tümpel geführt hatte, auch Flints sichere, kleine Welt war zusammengebrochen. Wie dumm war ich nur gewesen, dass ich geglaubt hatte, Jonathan würde es verstehen? Würde sich einfühlen und mitdenken können? Wenn man den lieben langen Tag mit Menschen wie meinen Eltern verbrachte, verlernte man früher oder später die Fähigkeit zu empathischem Denken. Genau das war meinem Bruder widerfahren.

Stolpernd und fluchend kämpfte ich mich durch das lichte Gebüsch und Geäst des kleinen Waldes, bis ich in der Entfernung bereits den Kiesweg ausmachen konnte, der zur Hauptstraße des Klinikgeländes führte. Ich wollte ausbrechen, raus aus dieser Gefühlshölle. Doch mit wem konnte ich schon darüber reden? Flint war vermutlich genauso, wenn nicht sogar noch aufgebrachter als ich. Meine Eltern oder Frau Hendel waren keine Option. Herr Olsen hatte keine Schicht. Evelyn oder einen der anderen Patienten wollte ich nicht auch noch mit meinen Problemen behelligen.

Sam.

Zwar hatte ich versucht, es zu verbergen, sie zu vergessen, doch es wollte nicht funktionieren. Ihr Tod hatte sich in mir eingebrannt und Narben hinterlassen, die niemals verschwinden würden. Bis zu meinem letzten Tag auf dieser Erde würde ich an sie denken müssen, an ihr aufgedunsenes Gesicht, das ganze Blut auf ihren Bettlaken und ihre leblose Hand zwischen dem Bett und der Wand, wie sie von den Sanitätern herausgezogen werden musste. Jedes Gespräch, jedes Lächeln schien wertlos, wenn mir diese Bilder in den Kopf schossen und alles auslöschten, an das ich mich zu klammern versuchte.

Ich wollte sterben. Nach langer Zeit empfand ich wieder die unendliche Leere vor einem Selbstmordversuch.

"Scar."

Sein Ton war leise, beinahe schon sanft, doch genau das war es, was mich zum Weinen brachte. Ungehemmt strömten die Tränen aus meinen Augen und verschleierten mir die Sicht. Alles um mich herum verschwamm und ich griff nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Flint.

"Scar."

Immer wieder flüsterte er meinen Namen, während er mich in den Arm nahm und meine zerzausten Haare streichelte. Ich brauchte ihm nicht zu erklären, was in mir vorging. Er wusste es einfach. Dachte nicht eine Sekunde daran, mich nach meinem Bruder oder dem Rest meiner Familie auszufragen, sondern erkannte, dass ich genau das brauchte: Geborgenheit und Ruhe. Keine Fragen, sondern Verständnis.

"Scar."

Eine Träne für mich. Eine Träne für meine Familie. Eine Träne für Sam. Zwei Tränen für Sam. Drei Tränen für Sam. Sie färbten Flints tiefgrünen Pullover noch dunkler und erleichterten mich gleichzeitig mit jedem Atemzug. Jede Träne war ein Gewicht, das von mir abfiel, eine Sorge weniger. Flint wusste das, hielt mich weiter in seinen Armen und wartete geduldig, bis ich endlich wieder gleichmäßig atmen konnte.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

"Wo ist Jonathan?"

Ich fragte, interessierte mich jedoch nicht wirklich für ihn. Er war nicht hier und das war das Wichtigste für mich.

"Vor ein paar Minuten habe ich ihn zum Haupthaus gehen sehen", entgegnete Flint ebenso desinteressiert und starrte in die Richtung des Klinikgebäudes.

Es lag unausgesprochen in der Luft, was mir nun bevorstand. Ein weiteres quälendes Gespräch mit meiner Familie, begleitet von Frau Hendel, einer Frau, die mir unsympathischer nicht sein konnte.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Flint löste sich von mir, hielt mich an beiden Schultern fest und sah mir in die Augen wie ein Trainer seiner Mannschaft vor einem entscheidenden Spiel.

"Hast du dich ausgeheult?"

"Ja."

"Nichts mehr übrig?"

"Gerade nicht."

"Gut, denn sie haben deine Tränen nicht verdient. Jetzt geh und trete deiner Familie in den Arsch."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt