Kapitel 97

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Die Feiertage gingen vorüber, ohne dass ich noch einmal von Nathalie hörte. Es überraschte mich nicht, aber gleichzeitig erwischte ich mich immer wieder dabei, an sie zu denken und mich zu fragen, wie es ihr ging. Hatte sie unser Treffen positiv in Erinnerung? Dachte sie auch hin und wieder an mich? Fragen über Fragen, über die ich ewig nachgrübelte, aber keine Antworten erhielt.

Das Fotoalbum lag unberührt auf meinem Nachttisch. Jeden Abend hatte ich mir vorgenommen, einen Blick hineinzuwerfen, es letztendlich aber immer wieder aufgeschoben. Bis heute, dem Silvesterabend.

Für heute waren anders als um Weihnachten keine besonderen Aktivitäten geplant gewesen, weshalb ich beinahe den ganzen Tag mit Alvin im Gemeinschaftsraum beim Zeichnen verbracht hatte. Mittlerweile wurde ich schon etwas besser, zumindest seiner Aussage nach. Ob ich das für voll nehmen konnte, wagte ich zu bezweifeln.

Das Leder fühlte sich rau in meinen Händen an und roch nach ihrem Parfüm. Mich würde es nicht überraschen, wenn sie es tatsächlich damit eingesprüht hätte. Auf der ersten Seite strahlte mir mein wenige Monate altes Ich entgegen, gekleidet in einem grasgrünen Strampler voller Karottenbreiflecken. Mein Lachen ging von einem Ohr zum anderen, drei Zähne waren bereits erkennbar und meine Augen hatten etwas Freches an sich, das ich schon lange nicht mehr im Spiegel erkannte. Lust auf Abenteuer, unbändige Neugierde und absolute Grenzenlosigkeit – Dinge, die mir heute ferner waren denn je.

Ich war ein niedliches Kind gewesen, das wurde mir spätestens beim achten Babyfoto klar, auf dem ich neckend in die Kamera zwinkerte. Dieses kleine Wesen hatte noch keine Ahnung, was alles auf es einbrechen würde. So naiv durfte ich nie wieder sein.

Emily und Jennifer schliefen bereits, als ich spätabends noch immer durch das Album blätterte. Mein Nachtlicht flackerte immer wieder verdächtig, doch das war hier nichts Ungewöhnliches. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, selbst in halber Dunkelheit lesen zu müssen. Ein Blick aus dem Fenster und auf die Uhr bestätigte mir: Es war noch immer 2016.

22:17 Uhr.

Neujahrsvorsätze hatte ich nicht; dennoch bedeute der Beginn des neuen Jahres einen Neuanfang für mich, mehr noch als je zuvor. Vielleicht würde ich im nächsten Jahr gesünder leben, glücklicher sein, mich mehr trauen und selbstständiger handeln. Oder alles würde so bleiben wie zuvor.

Die lächelnden Gesichter in den Fotografien begannen mich auszulachen. Ich hatte keine Ahnung, was mich in der Zukunft erwartete. Würde ich mich behaupten? Wie könnte ich die Schule überhaupt noch schaffen? Müsste ich tatsächlich wiederholen oder auf eine Sonderschule gehen? Und danach? Was kam dann?

Ich war eine Witzfigur, nur ein kleines Fischlein in einem riesengroßen, überfüllten Bach. Und über mir stand das Schicksal in Form hungriger Bären und fischte sich einen Fisch nach dem anderen aus dem Wasser heraus, um ihn zu verschlingen.

Auf meinem Sichtfeld breiteten sich langsam kleine Lichter und dunkle Flecken aus. Es war Zeit für mich, ins Bett zu gehen; wenn ich noch länger über meine Zukunft nachdenken würde, begänne ich das neue Jahr noch mit einer handfesten Migräne. Dann hätte ich wenigstens eine Ausrede, um nicht aus meinem Zimmer zu kommen.

Das Fotoalbum lag schon auf meinem Nachttisch, als ich es mir doch noch anders überlegte. Auf den bisherigen Bildern waren nicht nur ich, sondern auch mein Bruder, meine Mutter und meine Großmutter abgebildet gewesen. Wollte ich so nahe zu ihnen schlafen? Die Antwort kannte ich bereits, und so landete die Sammlung auf meinem Schreibtisch. Es waren zwar nur ein paar Zentimeter, doch für mich bedeuteten sie eine unbeschreibliche Erleichterung.

Ich konnte trotzdem nicht einschlafen.

23:07 Uhr.

Ein lautes Atmen unterbrach immer wieder die nächtliche Stille, doch ob es von Jennifer oder Emily kam, konnte ich nicht ausmachen. Ich trauerte den Zeiten hinterher, als ich mein Zimmer nicht mit zwei Personen hatte teilen müssen, gleichzeitig aber tat es mir leid für Emily. Sie war immer nett zu mir gewesen und es gestaltete sich sicherlich nicht leicht, alleine mit Jennifer in ein Zimmer eingeteilt zu sein. Ihr Zustand hatte sich in den vergangenen Tagen nicht verbessert, sondern nur noch weiter verschlimmert. Ihre Kopfhaut pellte sich an den kahlen Stellen, bei denen sie sich Haare ausgerissen hatte, ab und ließ sie noch kranker wirken, als sie es eigentlich war. Zwar hatte ich sie vorgestern so weit gebracht, dass sie mir müde zugelächelt hatte, doch ansonsten saß sie tagein, tagaus in einem Sessel im Gemeinschaftsraum und sprach kein Wort. Nur immer wieder hörte man nachts ein verräterisches Schluchzen aus ihrer Ecke. Ich würde ihr so gerne helfen, doch momentan ging es einfach nicht.

Die Minuten vergingen und nichts geschah. Wie gerne ich doch einen Knopf hätte, der mich einschlafen ließ und mir die nächtliche Melancholie ersparte!

Auf einmal hörte ich laute Stimmen aus dem Gemeinschaftsraum. War jemand aufgestanden und wollte etwas trinken? Doch dafür klangen sie zu aufgebracht. Es schienen zwei Männer zu sein, vermutlich von der Nachtschicht, die sich angeregt mit einander unterhielten, einer deutlich aufgebrachter als der andere. Ich legte meinen Kopf an die Tür. War einem anderen Patienten etwas zugestoßen?

"Jetzt komm schon mit, James! Hier passiert doch eh nichts. Die sind total außer Kontrolle!"

"Schon gut, ich komme ja! Ich hol nur schnell den Schlüssel, warte."

Wenige Sekunden knallte die Tür und Stille trat wieder ein. Eine Prügelei? So gerne ich auch herausgefunden hätte, was es damit auf sich hatte, setzte ich mich wieder auf mein Bett und starrte aus dem Fenster. Jetzt würde ich erst recht nicht einschlafen können, viel eher war ich hellwach. Könnte ich vielleicht etwas zeichnen, ohne Emily und Jennifer aufzuwecken? Die Chancen dafür waren gering; erst müsste ich die Zeichenmaterialien aus den Schubladen meines Schreibtisches holen, und die Geräusche, die dieses alte Ding bei jeder ach so kleinen Bewegung von sich gab, hätte selbst Sam im Tiefschlaf wecken können.

Sam. Ach, Sam.

Ob sie Silvester wohl gemocht hatte? Ich konnte sie mir gut mit Feuerwerkskörpern und Spaßutensilien bepackt vorstellen, wie sie eine Rakete in eine Flasche steckte und aufjauchzte, wenn sie in die Höhe schoss. Sam hatte sich ihr inneres Kind immer bewahrt, ob bewusst oder unterbewusst. Morgen würde ich sie an Silvester zeichnen und mich vielleicht auch endlich an ein wenig Farbe neben Bleistiften herantrauen. Sam schrie geradezu danach, mit Blau und Gelb und Rot ausgeschmückt zu werden.

Vielleicht würde der Neujahrstag gar nicht so schlecht werden. Alvin und ich würden uns wie immer an den Esstisch setzen und zeichnen, bis die Sonne wieder unterging. Dabei könnte er mich immer wieder zum Lachen bringen und ich würde meine Ängste vergessen.

Plötzlich neigte sich die Türklinke nach unten. War die Nachtschicht schon wieder zurückgekommen? Ich hatte nichts gehört. Und warum würde der Mann in unser Zimmer gehen wollen?

Die Tür schwang langsam auf und offenbarte ein mir nur allzu bekanntes Grinsen.

"Scheisse, nein", brachte ich gerade noch heraus, bevor mir die Tränen in die Augen schossen.

"Scheisse, doch", erwiderte Flint.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt