Kapitel 60

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Siebenundvierzig Stunden.

So lange war es her, seit ich Sams Körper in ihrem Bett gefunden hatte.

Siebenundvierzig Stunden.

So lange war es her, seit ich in ihre leeren Augen gesehen hatte.

Siebenundvierzig Stunden.

So lange war es her, seit ich hyperventilierend zur Nachtwache gerannt war und weinend um Hilfe geschrien hatte.

Siebenundvierzig Stunden.

Nachdem ich die Nachtwache informiert und sie sofort den Notruf gewählt hatte, war ich nicht von Sams Seite gewichen, bis man ihren leblosen Körper in einen dunkeln Leichensack gesteckt hatte. Ihr Haar war wie immer verstrubbelt gewesen, doch nichts am Rest ihres Erscheinungsbilds hatte an die Sam, die ich kannte, erinnern können. An meine Sam.

Ihre rechte Hand hatte zwischen dem Bett und der Wand festgesteckt, weshalb man sie beinahe brutal hervorziehen musste. Sie hatte keine Reaktion gezeigt und es einfach über sich geschehen lassen. Denn sie war tot.

Sam war tot.

Seit siebenundvierzig Stunden.

Man hatte die Klinikleitung und alle Betreuer informiert, von denen Herr Olsen, Herr Bennett und Herr Hart so schnell es ihnen möglich war kamen. In ihren Gesichtern konnte ich ablesen, wie dieser Todesfall auf die gesamte Außenwelt wirken musste; Schock und Trauer. Sam war ein junges Mädchen, mit der gesamten Zukunft noch vor sich. Sie hätte es sicherlich zu etwas gebracht. Solche Worte hatten in diesen Momenten in der Luft gehangen, doch darüber konnte ich nur vor Wut weinen. All diese Menschen hatten Sam nicht gekannt. Nicht wirklich. Die Betreuer hatten täglich Zeit mit ihr verbracht, doch das war immerhin ihr Beruf. Niemand war für sie dagewesen, als sie ihren letzten, hechelnden Atemzug genommen hatte; nicht einmal ich.

Ich war nicht bei ihr gewesen, obwohl ich gewiss etwas hätte tun können. Atemübungen hätten ihr sicherlich geholfen, doch ich hatte in diesen Sekunden nicht neben ihrem Bett gekniet, um ihr sie vorzumachen. Wer sonst hätte helfen können, sie zu beruhigen, außer ich?

Sam war allein gewesen; nicht nur ihr gesamtes Leben lang, sondern auch während ihrer letzten Momente. Ich hatte mich nicht einmal von ihr verabschieden oder mich darauf vorbereiten können. Es war einfach so geschehen, aus dem Nichts.

Doch das stimmte nicht. Sie hatte mir noch an ihrem Todestag erzählt, dass ihre Epilepsieanfälle schlimmer wurden, doch ich war zu dumm gewesen, um den Ernst der Lage zu erkennen und etwas zu unternehmen. Stattdessen hatte ich mit ihr über Sinnloses im Leben lamentiert, obwohl wir über so viel Wichtigeres hätten sprechen können. Sie wäre die einzige Person, der ich Evelyn und ihre Situation hätte erklären können, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen, denn Sam war trotz ihrer extrovertierten und fröhlichen Art sehr verschwiegen gewesen, wenn es zu meinen oder anderer Geheimnisse kam. Sie konnte das perfekte Abbild einer guten Freundin darstellen, im Gegensatz zu mir.

Frau Hendel hatte die Therapiestunden aller Stationspatienten verdoppelt. Vermutlich wollte sie somit erreichen, dass wir über unsere Traumata durch "dieses einschneidende Ereignis", wie sie es zu nennen pflegte, redeten und uns ihr und ihren Kollegen anvertrauten, doch bei mir erreichte sie damit nur das Gegenteil. Während meiner Therapiestunden saß ich für eine Dreiviertelstunde schweigend und mit trockenen Augen, die nicht mehr weinen konnten, in ihrem Büro und wartete das Ende der Tortur durch ihre Fragen ab; doch es wollte einfach nicht eintreten. Aufgrund meiner verweigerten Kooperation hatte es sogar die Überlegung gegeben, mich auf die Notfallstation zu verlagern, doch Herr Olsen hatte mich davor gerettet, obwohl es mir herzlich wenig ausmachte, wo genau ich mich befand.

Sams Bett blieb leer. Nur ein kleiner Fleck auf ihrem Kopfkissen erinnerte an ihren grausamen Tod, doch ansonsten schien alles wie immer. Die zahlreichen Bilderrahmen auf ihrem Nachttisch zeigten sie bei ihren Hobbys und alle ihre Kuscheltiere, die sie noch aus Kindheitstage behalten und sich als seelische Unterstützung in die Klinik mitgenommen hatte, waren allesamt noch in Reih und Glied auf dem Fenstersims über ihrem Bett geordnet. Die glücklich und naiv lächelnden Gesichter der niedlichen Bären und bunten Hasen waren für mich wie ein Fluch, doch ich wollte und konnte sie nicht vom Fenstersims nehmen, denn sie hatten Sam gehört. All ihr Eigentum ließ ich unverändert stehen, als würde sie gleich aufgeregt und mit zahlreichen mehr oder weniger interessanten Neuigkeiten ins Zimmer platzen. Als wäre sie noch am leben.

Sam war tot. Immer wieder musste ich mir diese Tatsache vors Gesicht halten, damit ich tatsächlich begriff, was momentan um mich herum geschah. Es wirkte wie ein schlimmer Fiebertraum, aus dem ich jeden Moment durch Sams Schnarchen gerissen werden könnte, doch mit jeder vergehenden Sekunde, Minute und Stunde wurde es unwahrscheinlicher, dass ich mir all das nur eingebildet hatte.

Sie war mein Frohsinn gewesen.

Genauso wie Flint meine Melancholie verkörperte.

Evelyn war meine Hoffnungslosigkeit.

Gleichzeitig stellten meine Eltern Zweifel und Wut dar.

Doch wer war ich? Eine Mischung aus all meinen Mitmenschen? Wie würde ich die kommenden Tage, Wochen und Monate nur überleben, wenn die einzig wahrlich gute Lebensquelle aus meinem Leben verschwunden war?

Mein Frohsinn war tot.

Seit achtundvierzig Stunden.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt