Kapitel 41

3.2K 441 133
                                    

Ihre Augenbrauen fuhren in die Höhe, ihr Brustkorb hob sich schlagartig und ihre Lippen pressten sich augenblicklich zu einem schmalen Strich zusammen. Während meine Mutter sich in einem Schock befand, der sie wahrscheinlich ihr Leben lang verfolgen würde, erlebte ich einen stummen Triumph.

Endlich.

Endlich hatte ich ihr von Angesicht zu Angesicht sagen können, was ich für die Frau empfand, die mich zur Welt gebracht, mir aber niemals die Liebe entgegenbringen konnte, die ich als Kind immer verfolgt hatte.

Endlich konnte ich meine leibliche Mutter aus der Fassung bringen und ihr die sonst so festgezurrte Maske aus dem Gesicht reißen.

Endlich fühlte ich mich frei und unbeschwert, anstatt einen Felsen anstelle meines Herzens in mir tragen zu müssen.

Sie war nicht meine Mutter, das wusste ich nun.

Ich würde niemals eine Mutter haben, das musste ich nun auch akzeptieren.

Doch lieber lebte ich den Rest meines Daseins ohne eine weibliche Bezugsperson, an der ich mich festhalten konnte, wann immer es mir schwerfiel, mit dem Leben, das mir in den Schoß gelegt wurde, zurechtzukommen; als dass ich krampfhaft versuchte, in eine Rolle zu passen, für die ich schlichtweg nicht geeignet war und es niemals sein würde.

Mittlerweile schien meine Mutter ihre übliche Contenance wiedergefunden zu haben, denn sobald ich nur meinen Blick auf sie richtete, atmete sie tief ein und schien zu einer Erklärung, einer Rechtfertigung – vielleicht sogar einer Anschuldigung – ansetzen zu wollen.

"Scarlett, ich-"

Doch sie wurde zur Überraschung jedes Anwesenden von meinem Vater unterbrochen.

"Was fällt dir eigentlich ein, deiner Mutter so etwas vorzuwerfen? Wovon sprichst du überhaupt, das ist ja Irrsinn!", schrie er wutentbrannt, während er völlig außer Fassung auf mich zuschritt.

Würde er mich nun schlagen? Ich konnte es nicht einschätzen, doch die pulsierende Vene auf seiner Stirn und sein rotangelaufenes Gesicht flößten mir augenblicklich Ehrfurcht ein. Erst jetzt fiel mir ein, dass Frau Hendel sich im selben Raum befand, und ich drehte mich fast schon hilfesuchend nach ihr um. Was sollte ich tun?

Doch sie stand nur hinter ihrem Schreibtisch und beobachtete die Situation, die sich vor ihr abspielte, wobei sie nicht einmal auf den Gedanken zu kommen schien, das Gebrüll meines Vaters zu unterbinden. Nur seine Ehefrau startete noch den Versuch, ihn aufzuhalten. Kein Wunder, denn sie wusste genau, wovon ich gesprochen hatte.

Sie wusste es.

"Henry, jetzt warte doch mal!", rief sie ihm zu und griff nach seiner Schulter, woraufhin er sich schwungvoll zu ihr umdrehte und nun sie mit seinem für ihn typischen Blick durchbohrte.

Das Blau seiner Augen stach im Kontrast zum Rot seiner Gesichtsfarbe nun noch deutlicher hervor und verlieh ihm einen fast irren Ausdruck. Ich hatte es mir zuvor nicht eingestehen wollen, doch in genau diesem Moment bekam ich Angst vor meinem Vater. Zuvor hatte er immer nur den stillen Komparsen im Hintergrund gespielt, doch heute übernahm er die tyrannisierende Hauptrolle.

"Was denn, Nathalie? Was meint sie mit 'misshandeln'? Die hat wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!"

Das brachte jeden im Raum zum betroffenen Schweigen. Doch während jeder andere vor Anspannung zu platzen schien, löste sich meine Angst merkwürdigerweise in Luft auf und ich bekam den Mut, erneut die Stimme zu erheben.

"Deine Ehefrau weiß genau, wovon ich gesprochen habe. Doch zuvor noch eine Sache; 'die' ist deine leibliche Tochter, ob du es nun willst oder nicht. Also versuche vielleicht erst einmal, dich in ruhigem Ton an mich zu wenden, bevor du mich anbrüllst", erklärte ich ihm vollkommen ruhig, während ich jedoch gleichzeitig einiges an physischer Distanz zwischen uns aufbaute.

Hatte ich ihn durch diese Worte noch mehr verärgert?

Die Antwort sollte ich gleich bekommen.

"Du hast Recht, Scarlett, du bist meine Tochter. Also verhalte dich verdammt noch mal nicht wie meine Mutter und versuche mich zu belehren! Denk ja nicht, dass du hier den Überblick hast, denn das ist nicht so! Ich soll mich in ruhigem Ton an dich wenden? Weißt du-"

"Scarlett hat die Wahrheit gesagt, Henry!", rief meine Mutter dazwischen und brachte ihn erneut dazu, sich ihr zuzuwenden.

"Was meinst du?", hakte mein Vater nach, während seine Rage sich langsam abbaute und er wieder einen klaren Blick zurückgewann.

"Mein Vater, er..."

Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen und schaute beschämt zu Boden, wobei mir der vorwurfsvolle Blick, den sie mir zuvor entgegenschleuderte, nicht entging. Ich wusste, dass sie mir eines Tages die Schuld dafür in die Schuhe schieben würde, doch diese Abscheu ihrerseits hatte ich nicht erwartet.

"Christopher? Was ist mit ihm? Was soll er überhaupt mit der Sache hier zu tun haben?", fragte mein Vater völlig perplex und aus seiner Rolle gerissen.

"Er war es."

"Er war was? Sag schon, Nathalie!"

"Mein Vater hat unsere Tochter misshandelt, Henry."

Was auch immer ich von meinem Vater erwartet hatte, sobald er von dem Missbrauch seiner Tochter durch seinen Schwiegervater erfuhr; so hatte ich es mir nicht vorgestellt.

Langsam drehte er sich wieder zu mir und musterte mich abschätzend, bevor er sich kurz zu Frau Hendel umdrehte, um ihre Reaktion mitzubekommen. Diese jedoch hatte sich mittlerweile auf ihrem Schreibtischstuhl niedergelassen und schien völlig ungerührt ein Protokoll zu führen.

Wie konnte sie all das geschehen lassen?

Hatte sie keinerlei Einfühlungsvermögen?

Ich war absolut sprachlos, doch der Kommentar meines Vaters ließ mich endgültig zusammenbrechen.

"Scarlett, was ist nur los mit dir? Wieso musst du einen toten Mann in den Schmutz ziehen, um Aufmerksamkeit von uns zu bekommen? Merkst du nicht, wie du unsere Familie auseinanderreißt?"

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt