Kapitel 76

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Augenblicklich sammelte sich Galle in meinem Rachen. Ich hätte mich am liebsten vor ihm hingeworfen, unter Tränen um Verzeihung gebeten und mich tausendfach entschuldigt, doch ich kannte ihn besser. Er verarbeitete solche Dinge anders, auf eine stille und zurückhaltende Art und Weise. Flint war vergessen worden. Von mir.

Meine Schuhe raschelten im herbstlich gefärbten Laub, als ich mich langsam auf den Ast zubewegte, auf dem Flint saß und seine Beine entspannt baumeln ließ. Man könnte denken, es ginge ihm gut und er sei vollkommen unbeschwert, doch seine Gesichtszüge waren an Angespanntheit nicht zu überbieten.

"Ähm–", flüsterte ich heiser, räusperte mich und versuchte verzweifelt, meinen trockenen Mund zum Reden zu bringen. "Hallo, Flint. Ich, also, meine Pläne für heute wurden von meiner Therapeutin etwas durcheinandergebracht. Entschuldige, dass ich erst jetzt komme. Meine Familie ist zu Besuch. Also meine Eltern sind gerade bei Frau Hendel für ein Gespräch, aber..."

Ich redete und redete, kam jedoch nicht zum Punkt. Sowohl Jonathan als auch Flint schienen meine Unsicherheit zu bemerken, doch mein Bruder hielt sich vor dem Fremden zurück und beobachtete die Szene mit leicht geöffnetem Mund und hochgezogenen Augenbrauen, statt einzugreifen und sich als mein Bruder vorzustellen. Anders jedoch Flint, der sich vor mir auf den Boden fallen ließ und mich zusammenzucken ließ. Sobald er sich aufrichtete, musste ich wie auch bei meinem Bruder den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu blicken, was für mich aufgrund meiner Körpergröße eher ungewöhnlich war.

Anstatt seinen Blick auf mich zu lenken, richtete Flint seine hellbraunen Augen auf Jonathan. Erst nach wenigen Augenblicken der Stille wandte er sich für wenige Sekunden mir zu und musterte anschließend wieder eindringlich meinen Bruder.

"Wie heißt du?"

Betont gleichgültig ging er an mir vorbei und trat näher zu Jonathan, bevor ich ihn an der Schulter zu mir drehte und die gesamte Situation zu erklären versuchte.

"Das wirkt jetzt vermutlich irgendwie komisch auf dich. Also, er ist–"

"Dein Bruder, ich weiß."

Von Eifersucht oder gar Feindseligkeit, wie ich sie anfangs von ihm erwartet hatte, war nichts zu sehen. Selbst nach einigen Momenten erwiderte Flint mein abwartendes Starren lediglich mit einem derart süffisanten Blick, der mich unter anderen Umständen zum Lachen gebracht hatte.

"Woher wusstest du–"

"Ihr seht euch auf eine gewisse Art und Weise ähnlich. Da ich deinen Vater schon kenne und bezweifle, dass er hier", dabei nickte er in Jonathans Richtung, "dein Sohn ist, war das die einzig logische Schlussfolgerung."

Mit seinem typischen Sarkasmus und dunklem Humor hatte Flint die dicke Luft zwischen uns zwar schon ein wenig aufgelockert, doch noch immer spürte ich eine andere, noch vor mir versteckte Emotion in ihm. Enttäuschung? Unterdrückte Wut? Trauer? Ich wusste es nicht und diese simple Tatsache erhöhte meinen Puls. Ob er mir die Verzögerung und den unerwünschten Gast nun verziehen hatte oder nicht, konnte ich ebenfalls nicht sicher sagen.

Endlich löste sich Jonathan aus seiner für ihn ungewöhnlichen Starre und näherte sich uns, wobei es schien, als wartete er darauf, dass Flint seine Lefzen zurückzog, seine Krallen ausfuhr und über ihn herfiel. Die pure Vorstellung brachte mich zum Grinsen, obwohl ich inständig versuchte, den Reflex zu unterdrücken. Flint wirkte tatsächlich wie ein Löwe mit schwarzer Mähne, wie er neben mir aufragte und meinen Bruder misstrauisch beobachtete. Doch das Bild wurde getrübt von dunklen Augenringen, angestrengten Augenbrauen und blauschwarzen Äderchen, die sich über seine Haut zogen.

Er war ein Löwe. Ein trauriger, müder, depressiver Löwe.

"Hallo, ich bin Jonathan. Und du heißt?"

In üblicher Geschäftsform streckte mein Bruder seine Hand zur Begrüßung aus, auch wenn er sich dabei etwas ungelenk anstellte. Sein Verhalten erinnerte mich an meinen Vater, wie er uns schon in früher Kindheit eingedrillt hatte, wie man sich Fremden gegenüber verhalten sollte und wie nicht. Wenn der Gästegruß dann zu leise oder informell ausfiel, wussten wir bereits, was uns nach der Feier oder dem Dinner erwartete.

Sichtlich überrascht über diese ungewohnte Geste erwiderte Flint den Händedruck kräftig, aber unsicher. Ich konnte die Rädchen in seinem Kopf rattern hören, wie er sich darüber Gedanken machte, welcher Person er hier gegenüberstand. Ich wusste es selbst nicht einmal, auch wenn Jonathan mein Bruder war. Er schien sich verändert zu haben, doch ich konnte noch immer sein früheres Ich und unser strenges Elternhaus in ihm wiedererkennen. Jonathan war wie auch ich von ihnen fürs Leben gezeichnet worden und würde ihren Stempel wohl auch nie vollkommen abwaschen können.

"Ich heiße Flint."

Jonathan nickte und betrachtete uns beide im Wechsel. Anscheinend fragte er sich, was uns verband, doch bevor er beginnen konnte, unangenehme Fragen zu stellen, lenkte ich die beiden näher an den See und ließ mich auf einem Kissen aus weichem, knisternden Herbstlaub nieder. Rascheln links und rechts von mir ließ mich darauf schließen, dass Flint und Jonathan es mir gleichgetan hatten. So saßen wir am Ufer und blickten durch das bräunliche Farn hindurch auf dunkles Wasser, das hin und wieder von kleinen Böen erschüttert wurde und sich in einem unregelmäßigen Tanz zum Takt des Windes bewegte.

Wir schwiegen einige Minuten lang, doch ich fühlte, dass sich allmählich das unvermeidbare Gespräch anbahnte, vor dem ich mich schon zuvor gegraust hatte. Immer wieder blickte Jonathan zu Flint, wenn dieser zu den Wolken aufschaute und das Naturschauspiel vor uns in sich aufsog, und betrachtete die ihm fremde Person argwöhnisch. Ob es Eifersucht oder pures Interesse war, konnte ich nicht genau sagen, denn immer wieder wurde sein Gesicht von kleinen emotionalen Blitzen durchzogen, die jedoch zu schnell geschahen, als dass ich sie näher betrachten könnte. Er schien fast schon traurig, während er uns beide beobachtete, wie wir einträchtig schwiegen und zusammen das Grün, Rot, Orange und Gelb des Herbstes wie ein Gemälde in einem Atelier betrachteten und in seinen verschiedenen Facetten analysierten. Für mich und Flint war dieses stille, gemeinsame Genießen eine entspannende Gewohnheit geworden, doch für ihn musste es wirken, als wäre er in einer anderen Welt. Jeden Tag verbrachte er mit kalten, direkten und wenig einfühlsamen Menschen, sodass wir beide vermutlich etwas fast schon Außerirdisches darstellten.

Vielleicht waren wir das auch, doch uns gefiel es.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt