Kapitel 45

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"Wir können noch nichts sicher diagnostizieren."

Das war alles, was ich als Antwort auf die Frage, was denn nun mit mir geschehen war, erhielt. Auch nach Stunden im Krankenzimmer schien es keiner der Ärztestaffel für nötig zu erachten, mich in meinen aktuellen Gesundheitsstatus einzuweihen.

War es vielleicht etwas wirklich Schlimmes?

Ich traute mich nach einigen Versuchen gar nicht mehr nachzufragen, bis schließlich Frau Hendel eintrat. Ihre blonden Haare trug sie heute zu einem enggebundenen, hohen Zopf, der ihre markanten Gesichtszüge stärker hervorhob und sie noch härter aussehen ließ als sonst. Erst nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, begann sie zu sprechen.

"Uns liegen jetzt die Testergebnisse vor. Es wurde nichts gefunden."

Was?

Meinen verzweifelten Gesichtsausdruck hatte sie anscheinend bereits erwartet, denn sie hob beschwichtigend die Hände und setzte sich auf einen der zwei weißen Plastikstühle, die gegenüber des Bettes aufgestellt worden waren, sodass sie sich nun auf Augenhöhe mit mir befand.

"Das heißt jedoch nicht, dass du dir das alles eingebildet hast, Scarlett. Hast du schon einmal von psychosomatischen Symptomen gehört?"

Zögernd schüttelte ich den Kopf und sah aus dem kleinen Fenster, durch dessen beschmierte Scheiben nur grob der blaue Himmel, an dem sich außerhalb dieser Mauern vermutlich jeder erfreute, zu erkennen war. Zuvor mussten sich meine Augen jedoch durch eine Schicht aus getrockneten Körperflüssigkeiten und angehafteten Fliegenleichen arbeiten.

"Psychosomatische Symptome sind bei Menschen mit deiner Schwere einer Depression nicht selten; man könnte sie beinahe als eine Nebenwirkung bezeichnen. Sie rühren von psychischen Störungen, welche sich im Zuge der Psychosomatik auch auf den Körper ausüben. Teilweise gibt es ganze Tumore, die sich über Jahre aufgrund von schweren Depressionen entwickeln und schließlich operativ entfernt werden müssen, doch solche Fälle sind bei Betroffenen deines Alters sehr selten. Bei Jugendlichen kommt es eher zu leichten Migräneanfällen oder nach einiger Zeit auch zu Dehydration und Zusammenbrüchen, doch dass es bei dir gleich beim ersten Anfall in solche Dimensionen ausartet, hätte niemand erwarten können", erklärte Frau Hendel, während sie ungewöhnlich eingenommen auf den Ordner, den sie sich auf ihrem Schoß ausgebreitet hatte, starrte.

Es klang wie eine Art Ausrede, wie sie versuchte, sich aus der Verantwortung für meine Situation zu ziehen. Was erwartete sie nun von mir? Sollte ich ihr verzeihen? Mich bei ihr entschuldigen, ihr solche Umstände gemacht zu haben? Denn genau so etwas in der Art schien sie zu erwarten, als sie die nächsten Sekunden ebenfalls in vollkommenem Stillschweigen verbrachte.

Doch das würde ich nicht tun.

"Wann kann ich wieder zurück auf die Station?", erkundigte ich mich daher unbeirrt und blickte erneut aus dem Fenster.

"Sobald es dir gut genug geht. Wie fühlst du dich denn jetzt körperlich?"

"Gut."

Das war eine Lüge, doch ich hielt es keine Minute länger in diesem kalten, dreckigen Raum aus, der wirkte, als hätte er vor noch nicht allzu langer Zeit als Abstellkammer dienen müssen. Die abgestandene Luft hatte sich dermaßen fest in meinen Atemwegen festgesetzt, dass mich das Gefühl beschlich, den muffigen Geruch nie wieder aus meiner Nase bekommen zu können.

"Sicher? Du siehst noch etwas blass aus."

Seit wann kümmerte sich Frau Hendel ernsthaft um mein Wohlergehen? Bekam sie vielleicht einen kleineren Bonus, wenn eine ihrer Patientinnen vor der Entlassung verstarb, und sorgte sich erst jetzt um mich, da mein Gefährdungszustand akut wurde?

Ich hasste mich selbst für diese bitteren Gedanken, doch ich konnte sie nicht abstellen; sie sprudelten einfach so aus mir heraus und ließen sich nicht aufhalten. Dass ich sie nicht meiner Therapeutin entgegenschleuderte, wie ich es in diesem Moment am liebsten täte, zeugte schon von einer beeindruckenden Selbstbeherrschung, die ich mir selbst normalerweise nicht zuschrieb.

"Mir geht es wirklich gut", blaffte ich sie an, besann mich dann jedoch eines Besseren. "Trotzdem danke ich Ihnen für die Nachfrage", fügte ich daher in einem bemüht freundlicherem Tonfall hinzu.

Ob sie es mir wirklich abkaufte, konnte ich nicht abschätzen, doch Frau Hendel schien sich damit zu begnügen und nickte mir zu, dass ich aufstehen durfte. Sobald sie mir den Rücken gekehrt hatte, versuchte ich so schnell wie möglich meine Beine zu bewegen, doch sie gehorchten mir nicht. Auch mein Kopf, der mir bei jeder Bewegung geradezu befahl, mich wieder zurück ins Krankenbett zu legen, begann wieder schmerzhaft zu pochen. Diese dumpfen Qualen ertrug ich jedoch oberflächlich gelassen, da meine Therapeutin sich wieder zu mir gewandt hatte und kritisch beobachtete, wie ich mich aus dem Bett zu quälen drängte.

Sie wusste, dass ich gelogen hatte, doch blieb still, während ich mich vorsichtig auf meine wackelnden Knie stützte und durch den kleinen Raum tappte; akribisch darauf bedacht, mein noch unstabiles Gleichgewicht beizubehalten. Endlich bei der Tür angekommen, griff ich nach dem Türrahmen, dessen Lackfarbe bereits größtenteils vom Zahn der Zeit abgenagt worden war und nun sein nacktes Holzkleid offenbarte. Tatsächlich entdeckte ich in der Nähe der Türklinke reale, menschliche Zahnabdrücke, was mich noch glücklicher machte, endlich aus diesem grauenvollen Zimmer verschwinden zu können.

Ich würde glücklicherweise niemals erfahren, was bereits in diesem Raum, in diesem Bett, auf diesem Boden geschehen war.

Ich musste einfach nur raus.

Doch mein Körper wollte nicht.

Schon nach einigen unsicheren Schritten taumelte ich leicht und stieß gegen die gegenüberliegende Backsteinwand, wobei Frau Hendel nur zurückblieb und mich die Folgen meiner Entscheidung alleine tragen ließ. In diesem Fall musste ich ihr gegen meinen eigentlichen Willen Recht geben, denn ich hatte selbst Schuld an den Qualen, den Kopf- und Gliederschmerzen, die ich in diesen peinvollen Momenten erlitt. Trotzdem riss ich mich so weit es mir möglich war zusammen und brachte den viel zu langen und mit Barrieren bestückten Weg hinter mich, ohne einen Laut des Leidens von mir zu geben. Diese Genugtuung für Frau Hendel und Bloßstellung für mich selbst wollte ich uns beiden ersparen.

Die grüne Stationstür begrüßte mich beinahe ironisch mit den lachenden Gesichtern, die auf ihre Oberfläche gemalt worden waren, doch ich ignorierte die Illustrationen und begab mich auf schnellstem Wege in mein Zimmer. Auf meinem Weg dorthin traf ich jedoch noch auf einige meiner Mitpatienten sowie Frau Foxworth, die mich nur beiläufig betrachtete, während ich mit den letzten Schritten bis zu meiner Zimmertür zu kämpfen hatte. Verübeln konnte ich es ihr nicht, denn auch wenn sie ihre Hilfe angeboten hätte, wäre sie vermutlich nur auf wortlose Ablehnung meinerseits gestoßen.

Ich wollte keine Hilfe.

Ich musste das hier alleine hinbekommen.

Das tat ich auch; nach einigem Stolpern und Einknicken hatte ich es tatsächlich vollbracht und schmiss mich vollkommen entkräftet auf mein knarzendes Bett, das sich im Vergleich zu seinem Kompagnon im Krankenzimmer wie der Himmel auf Erden anfühlte und mich unweigerlich zum Lächeln brachte. Immerhin hatte ich es aus dem Krankenzimmer geschafft; jetzt mussten nur noch die psychosomatischen Symptome verklingen, denn ich hielt es mit ihnen nicht mehr aus.

"Ähm, Letty?"

Der für sie ungewöhnlich zarte und sensible Tonfall ließ mich meinen Körper mühsam zu meiner Zimmergenossin umwälzen, die sich schüchtern vor meinem Bett aufgebaut hatte.

"Was ist denn?"

Hatte ich etwa Unordnung hinterlassen?

Wollte sie vielleicht sogar das Zimmer wechseln?

Nervte ich sie mit irgendeiner meiner vielen Angewohnheiten und Eigenarten?

Augenblicklich fuhr ein eiskalter Schauer über meinen Rücken, der mir automatisch zu einer aufrechteren Position verhalf. Erst ein Zusammenbruch und nun das. Zuvor war es mir nie bewusst gewesen, doch ich hatte mich an Sam als Mitbewohnerin gewöhnt; nein, ich fand sie sogar sehr angenehm, was für mich schon mehr als ungewöhnlich war. Fand diese Zuneigung nur von mir aus statt?

Doch sie überraschte mich mit ihren Worten, die sie nur zögernd über ihre schmalen Lippen brachte.

"Ich brauche deine Hilfe."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt