Kapitel 3

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»Also, Scarlett. Warum bist du hier? Was möchtest du verändern?«

Hier war ein kleines, fünfeckiges Büro, in dem ein Bürostuhl und dazu passender Schreibtisch, ein großer, schlanker Schrank, ein kleiner, viereckiger Tisch und drei Stühle, wie man sie in einer Cafeteria vorfinden könnte, das Mobiliar bildeten.

Ich fühlte mich unwohl und beobachtet. Beobachtet von der Frau, die es sich mir gegenüber in einem der Cafeteria-Stühle bequem gemacht hatte und mich nun mit ihrem undurchschaubaren Blick aus ihren zwei harten Augen durchbohrte. Da ich nicht wusste, wohin ich schauen sollte, senkte ich meinen Blick auf den dunkelgrauen Teppichboden, in dem ich immer wieder ein paar einzelne Hundehaare entdeckte, die sich so in ihre Umgebung einfügten, dass sie kaum auffielen.

Ich schluckte hart und besann mich auf die Frage der Frau zurück. Wie war ihr Name noch einmal gewesen? Sie hatte ihn mir am Anfang der Sitzung genannt, doch ich hatte ihn schon wieder vor Nervosität vergessen.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

»Scarlett? Hörst du mir noch zu?«

Nein. Nein, das tue ich nicht.

»Tut mir Leid, ich... Ich war etwas abgelenkt. Es wird nicht wieder vorkommen, für mich ist das hier so neu und ich bin ziemlich nervös«, stotterte ich, während meine Finger die Wolljacke, die ich auf meinem Schoß zusammengelegt hatte, regelrecht zerrupften.

»Das verstehe ich vollkommen, Scarlett. Möchtest du sagen, worüber du gerade nachgedacht hast?«

Nein. Nein, das möchte ich nicht.

»Ich weiß nicht, worüber ich gerade denke. Alles ist so wirr und ich kann einfach keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das ist alles.«

»Das soll alles sein? Das glaube ich dir nicht. Bist du dir sicher, dass dies alles ist, was du mir sagen möchtest?«

Ja. Ja das ist es.

Was erwartete sie denn von mir? Dass ich mich bei meiner ersten Therapiestunde hier, einem Aufnahmegespräch, komplett öffnen würde? Das sollte sie eigentlich besser wissen.

Es war zwei Monate her, seit ich mich entschlossen hatte, freiwillig eine stationäre Behandlung in Anspruch zu nehmen, und ich fühlte mich psychisch kein Stückchen besser. Meine Energie war sogar noch weiter gesunken, als ich es je für möglich gehalten hätte, meine Augen konnte ich nur unter größten Anstrengungen offen halten und ich fühlte mich leer.

Komplett ausgelaugt, wie ein Zombie.

Doch das sollte sich ab heute ändern; dem 04. Juli.

Die US-Amerikaner zelebrieren einen Feiertag, und ich komme in die Psychiatrie. Die Ironie dieser Tatsache brachte mich fast dazu, mich zu übergeben.

»Scarlett, ich verstehe, dass du nervös bist. So geht es allen unseren Patienten, wenn sie gerade erst hier angekommen sind. Wenn du dich erst einmal mit den anderen unterhalten und ein paar Tage hier verbracht hast, geht es dir gleich viel besser, hast du mich verstanden?«

Ich nickte. Allein diese Bewegung brauchte fast meine gesamte Energie auf.

Allein der Gedanke an Gespräche mit fremden Jugendlichen in meinem Alter bereitete mir vor Angst eine Gänsehaut. Sie werden mich hassen!

Wie sollte ich in meinem Zustand irgendetwas tun, außer mich in meinem Bett zusammenzurollen und gegen die Wand zu starren?

Denn genau das war es, womit ich die vergangenen Monate den Großteil meiner Zeit verbracht hatte. Zu mehr war ich einfach nicht fähig.

»Nun denn, ich werde deine Eltern noch einmal reinholen, damit wir noch die finalen Begebenheiten und Regeln besprechen können, die dein Aufenthalt mit sich bringen wird.« Schon stand sie auf und schritt mit lauten, selbstsicheren Schritten auf die Tür zu. Als sie diese öffnete, vernahm ich sogleich die Stimme meiner Mutter.

»Selbstverständlich können wir noch einmal in ihr Büro kommen, Frau Hendel!«

Hendel, genau; das war ihr Name.

Sobald sich meine Eltern und Frau Hendel gesetzt hatten und es somit unangenehm voll und stickig in dem kleinen Raum geworden war, fing meine Therapeutin wieder an zu reden.

»Also, bevor Scarlett nun auf die Station kommt und all ihre Mitpatienten und Betreuer kennen lernt«, während sie erzählte, lächelte sie mich mit diesem gruseligen Lächeln an, das alle Psychologen auflegen, wenn sie einem Mut machen wollen und wissen, dass ihr Verfangen aussichtslos ist, »möchte ich Sie und Ihre Tochter zuerst einmal mit dem groben Regelwerk in dieser Klinik bekannt machen. Genauere Informationen finden Sie in dem Hefter, den ich Ihnen am Ende unseres Gespräches überreichen werde. Für dich«, wieder legte sie ihren undurchschaubaren Blick auf mich, »liegt in deinem Zimmer ein Regelwerk, das du dir zu einer ruhigen Stunde durchlesen kannst. Also, erst einmal möchte ich anmerken, dass diese Klinik über sechs separate Stationen verfügt, von denen du auf Station Jupiter eingeteilt bist. Die anderen vier regulären Stationen tragen die Namen VenusMerkur, Uranus und Saturn. Saturn ist nebenbei gesagt auch Jupiters Schwesternstation, was bedeutet, dass ihr einmal in der Woche zusammen Sportunterricht habt.«

Einen Moment mal – Sportunterricht? Zum wiederholten Male zweifelte ich an der Richtigkeit meiner Entscheidung, in die Klinik zu gehen. Ich würde mich nicht nur im Klinikalltag, sondern auch noch wöchentlich im Sportunterricht bloßstellen! Doch anstatt auf mein sicherlich geschocktes Gesicht einzugehen, fuhr Frau Hendel einfach völlig unberührt mit ihrer Regelhierarchie fort.

»Abgesehen vom Sportunterricht werden die Patienten auch noch in Mathematik, Gemeinschaftskunde und Englisch unterrichtet. Da Scarlett schon sechzehn ist, wird sie nicht mehr in unsere klinikinterne Schule gehen, die für die Jüngsten gedacht ist, sondern nach einwöchiger Eingewöhnungszeit den Unterricht in einem Gebäude außerhalb des Geländes besuchen. Den Weg dorthin wird dir dann sicherlich eine Mitpatientin zeigen, wenn du sie fragst.«

Sicher.

»Wie schon in der E-Mail stand, die ich ihnen letzte Woche zukommen ließ, sind hier jegliche digitale Gegenstände strengstens verboten, damit die Patienten sich vollends auf sich und ihre Heilung konzentrieren können.«

Sie schaute mich eindringlich an und erwartete wohl so etwas wie eine geschockte oder gar bockige Reaktion, doch ich erwiderte ihren Blick komplett emotionslos. In den vergangenen Monaten hatte ich sowieso nie viele Gedanken an mein Handy verschwendet, also würde ich es jetzt auch nicht sonderlich vermissen.

»Das ist aber außerordentlich lobenswert«, trällerte meine Mutter bemüht fröhlich, doch niemand schenkte ihr besondere Beachtung.

Frau Hendel schaute noch einmal ihre Unterlagen durch und strich sich eine Strähne ihres schulterlangen blonden Haares aus dem Gesicht. Sie war nicht so alt, wie ich es von einer führenden Diplompsychologin erwartet hätte; Ende dreißig, allerhöchstens vierzig. Doch durch ihr manchmal fast schon militärisch anmutendes Auftreten hatte sie anfangs deutlich älter auf mich gewirkt. Ihre zusammengekniffenen Augen huschten noch ein paar letzte Male über die Papiere, dann legte sie diese beiseite und sah mich wieder an.

»Das wäre es dann von meiner Seite. Scarlett, ich werde gleich noch mit deinen Eltern ein ausführliches Gespräch führen, aber du bist erst einmal entlassen. Herr Perkins wird dir sicherlich gerne dabei helfen, dich einzurichten und dir noch ein bisschen mehr über den Stationsalltag zu erzählen.«
Da fiel mir noch eine Frage ein, vor deren Antwort ich mich schon lange gefürchtet hatte.

»Ähm... Werde ich eigentlich ein Einzelzimmer haben?«

Wieder einmal ging Frau Hendel durch ihre Akten und sah nicht einmal auf, während sie begann zu sprechen.

»Nun ja, vorerst wirst du allein in einem Zweierzimmer wohnen. Wir versuchen immer, auf jeder Station ein Bett für Notfälle freizuhalten. Aber bald werden wir wieder jemand Neues aufnehmen und dann wirst du vermutlich dein Zimmer teilen müssen. Wie auch immer, Herr Perkins wartet auf dich.«

Damit schien für sie das Gespräch beendet zu sein und ich wendete mich ab. Was würde mich nun erwarten?

Ich kann das alles nicht!

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt