Kapitel 14

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»Tut mir wirklich Leid, Scarlett. Oh verdammte Scheisse!«

Ist das Sam?

Ich nahm ihre Stimme nur dumpf und verschwommen durch den dicken Schleier aus Benommenheit wahr, da ich nicht in der Lage war, meine sicherlich geschwollenen Augen zu öffnen. In meinem Kopf war ein stetiges hohes Piepen, das einfach nicht abebben wollte und mit jedem meiner zittrigen Atemzüge lauter und penetranter über alles, was sich um mich herum abspielte, dominierte.

Meine Augenlider begannen unkontrolliert zu zucken und ich konnte es nicht stoppen. Für einen etwas länger währenden Augenblick schloss ich fest meine Augen und atmete tief aus. Konzentration.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Langsam klärte sich mein Bewusstsein und ich konnte mich wieder einigermaßen auf mein Umfeld konzentrieren. Um mich herum schienen sich mehrere Menschen versammelt zu haben, die wild miteinander diskutierten.

»Du hättest einfach aufpassen sollen!«

»Ich habe doch schon gesagt, dass es mir unglaublich Leid tut!«

»Das nächste Mal solltest du einfach aufpassen!«

»Wartet mal, ich glaube, dass sie aufwacht. Geht mal alle ein Stückchen zurück, erdrückt sie nicht so.«

Endlich gelang es mir, meine Augen zu öffnen, doch mein auf einmal lichtdurchflutetes Blickfeld verschlimmerte meine schon bestehenden Kopfschmerzen nur noch.

»Komm, setz dich auf. Dann helfe ich dir in die Station und dein Bett zurück.«

Mein Bett.

Das ist alles, wonach ich mich momentan sehne.

Mein Kreislauf kam mit der Zeit allmählich wieder in Schwung und ich konnte mich aufsetzen. Die Traube, die sich zuvor um mich versammelt hatte, verteilte sich nun wieder auf dem Feld, um angeleitet von Herrn Bennett mit dem Sportunterricht fortzufahren. Herr Hart hingegen half mir mittlerweile, mich auf meine eigenen zwei Beine zu stellen und an einer Gitterwand abzustützen. Obwohl ich mich noch sehr instabil und fragil fühlte, bewegte ich mich mit Herrn Harts Hilfe in Richtung unserer Station.

Während sich mein abgedunkeltes Zimmer und das mittlerweile wohlbekannte Bett besser anfühlten als die Schwüle, die mich außerhalb dieser Mauern fast erschlagen hätte, fühlte ich mich trotzdem schrecklich. Eigentlich war das nichts Neues oder Ungewohntes für mich, doch meine vorgeführte Unfähigkeit, in sozialen Interaktionen zu agieren, zog meine gesamte Laune nach unten und mein Körper fühlte sich absolut kraftlos und ausgelaugt an.

Wird es je besser werden?

Ich hätte nicht sagen können, wie lange ich dalag und über dieser Frage brütete.

Wie sollte jemand wie ich jemals die Energie dazu aufbringen, eine so umfassende Diagnose zu überwinden und ein einigermaßen normales und erfülltes Leben führen zu können? Nicht einmal einem Ball konnte ich rechtzeitig ausweichen; wie sollte ich es dann je aus diesem Teufelskreis an Krankheiten schaffen? Es war mir ein Rätsel.

Mittlerweile hörte ich durch mein leicht geöffnetes Fenster, dass die Sportstunde beendet worden war und die Patienten sich auf den Weg zurück zur Station machten. Ihr Lachen und Schreien ging mir wegen meinen starken Kopfschmerzen auf die Nerven und ich wünschte, ich könnte einfach die Bettdecke über meinen Kopf ziehen und die ganze Welt um mich herum vergessen.

Ich fühlte mich eingesperrt und die Gewissheit, dass ich Monate hier verbringen würde, macht mich nervös und zittrig. Meine Arme und Beine fühlten sich an, als wären sie abgestorben, und ich vegetierte einfach so vor mich hin.

Das Abendessen ließ ich ausfallen. Erst rief Herr Bennett alle zum Tisch, doch als ich nach mehreren Aufrufen nicht dazustieß, kam er in mein Zimmer. Zuerst hatte er versucht, den Lichtschalter umzulegen, um mich nach seinen Worten etwas wacher zu machen.

Um 18 Uhr. Sehr sinnvoll.

Als ich ihn jedoch mit einem stummen, aber vielsagenden Blick davon abhielt, kniete er sich neben mein Bett, in dem ich noch immer unbewegt lag, und versuchte ergebnislos, mich zum Essen zu überreden. Was hätte mir das schon gebracht? Hunger verspürte ich sowieso nicht, denn mein Magen fühlte sich durchgehend an, als wäre er mit Steinen gefüllt; wie der Wolf in der Geschichte von Rotkäppchen.

Doch ich war nicht der Wolf; eher die Großmutter, die krank und unbeweglich in ihrem Bett lag und vom Wolf gefressen wurde. Das passte schon viel eher zu mir und meiner aktuellen Situation.

Nach meinen stetigen Weigerungen, mich aus dem Bett zu bewegen, ließ Herr Bennett schließlich nach und schloss meine Zimmertür hinter sich, als er hinausging.

Endlich allein.

Entfernt, so als würde es in einer anderen Welt geschehen, hörte ich meine Mitbewohner und die Betreuer miteinander plaudern und Witze reißen. Dass ich nicht da war und es mir offensichtlich nicht gut ging, schien der allgemeinen Stimmung keinen Abbruch zu tun.

Stunden später, als die Nacht schon längst eingebrochen war und alle schliefen, wagte ich mich vorsichtig aus meinem Zimmer, um auf die Toilette zu gehen und einen Schluck Wasser zu trinken. Es war uns nicht erlaubt, eine eigene Wasserflasche mit auf unsere Zimmer zu nehmen, da angeblich schon einmal ein Patient auf Neptun versucht hatte, sich den Flaschenhals in den Rachen zu rammen und zu ersticken oder zu ertrinken. Auf meinem Rückweg fiel mir eine Pinnwand, die die individuellen Tagespläne der Patienten auflistete, ins Auge und ich trat näher. Ganz unten rechts fand ich schließlich auch meinen Namen.

Scarlett.

Kein Nachname, wahrscheinlich für den Datenschutz.

Als ob sich irgendjemand hier Sorgen über seinen Nachnamen und die dazugehörige Identität macht.

Unter der Plakette, die meinen Namen trug, war ein Blatt Papier mit einem bunten Magneten befestigt worden. Ich nahm ihn vorsichtig von der Wand und las mir meinen Plan, von dem mir zuvor noch gar nicht erzählt worden war, im Schein der gelben Lampen, die durch den Hauptflur schwach in die Station schienen, gründlich durch.

06. Juli 2016, Mittwoch:

8:00 Uhr – 8:30 Uhr • Frühstück

8:45 Uhr – 9:00 Uhr • Morgenspaziergang

Verwirrt las ich mir diesen Punkt noch einmal durch? Ein Morgenspaziergang? Warum wusste ich davon nichts?

10:00 Uhr – 10:45 Uhr • Einzeltherapie Frau Hendel

Verdammt. Morgen hatte ich meine erste offizielle Therapiestunde! Was würde passieren? Meine Beine fingen an zittrig zu werden, daher zog ich mir einen Stuhl vom Esstisch heran und setzte mich auf diesen, was mein Kreislauf mir dankte.

12:00 Uhr – 12:30 Uhr • Mittagessen

15:30 Uhr – 19:00 Uhr • Besuchsnachmittag

Besuchsnachmittag.

Besuchsnachmittag.

Besuchsnachmittag.

Meine Eltern würden mich besuchen kommen. Würde mein Bruder auch dabei sein? Bitte nicht.

Innerlich wand ich mich und hoffte inständig, dass sie es einfach vergessen würden und ich einen weiteren, einsamen Tag in meinem Bett verbringen könnte, doch ich kannte meine Mutter genug, um zu wissen, dass sie nie einen Termin versäumte. Zum Friseur, zur Maniküre, zum Schulfest und eben auch zum Besuchsnachmittag konnte man sich sicher sein, dass sie samt Gefolgschaft anwesend sein würde. Ich betete nur, dass sie keine ihrer falschen Freundinnen mit sich bringen würde, denn diesen Frauen zog ich sogar meine zerstörte Familie vor.

Betäubt vor Angst heftete ich das Blatt zurück an die Pinnwand und ging in mein Zimmer zurück, doch der mir bevorstehende Tag ging mir einfach nicht aus dem Kopf.

Was wird morgen passieren?

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt