Kapitel 84

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"Da sind wir."

Der Wagen kam ruckelnd zum Stehen und Afzal öffnete das Fahrerfenster, um seinen Ausweis vorzuzeigen, woraufhin die Schranke vor dem Haupteingang langsam hochfuhr. Die zwanzig Sekunden, die mir blieben, bis wir weiterfahren konnten, verbrachte ich damit, den letzten Hauch von Freiheit, den ich für eine lange Zeit spüren würde, einzuatmen. Es roch nach Abgasen, ausgedrückten Zigaretten und sich ankündigendem Regen. Hoffentlich würde es heute Nacht gewittern.

Kaum waren wir vor dem Haupteingang des Klinikgebäudes angekommen, trat Frau Hendel bereits aus dem Gebäude. Ihre hellblaue Bluse und die auf den Schultern ruhende indigofarbene Filzjacke strahlten die für sie übliche kühle Aura aus, doch ihr Blick war ungewöhnlich warm.

"Vielen Dank, Afzal", begrüßte sie den Fahrer und gab ihm die Hand. "Bleibst du noch einen Moment hier? Ich würde gerne noch kurz mit dir sprechen, sobald ich Scarlett zu ihrer Station gebracht und sie den Betreuern dort vorgestellt habe."

"Selbstverständlich, ich warte hier am Auto."

Damit war der Smalltalk beendet und die Psychologin legte ihre Hand an meine linke Schulter, um mich zu leiten, als ob ich nicht schon wüsste, wo sich die Notfallstation befand. Durch meine dünne Jacke konnte ich die Wärme ihrer Hand spüren, während wir in den Eingangsbereich traten und Frau Hendel die Sekretärinnen am Tresen grüßte. Ich blieb still.

Es schien ein milder Winter zu werden, selbst Mitte Dezember ließ sich keine Schneeflocke blicken. Viel eher war der Regen ein beinahe täglicher Begleiter geworden, während ich in meinem Krankenhausbett gesessen und aus dem Fenster gestarrt hatte. Wie es wohl Evelyn ergangen war? Und Arthur? Und Flint?

Vorerst würde ich auf diese Fragen keine Antworten erhalten, denn wenn die Notfallstation für eines bekannt war, dann für Isolation. Doch mir blieb keine Zeit, diese düstere Zukunft zu fürchten, denn ich wurde sogleich in sie hineinkatapultiert. Wir blieben vor der Eingangstür zu Neptun stehen, deren Glasfenster mit etwas Lichtundurchlässigem zugeklebt worden waren. Der Name der Station war in verschnörkelten Buchstaben an eine benachbarte Wand gesprayt worden, im Hintergrund des Bildes konnte man den blauen Planeten und Meereswellen erkennen. Es bot einen merkwürdig friedlichen und täuschenden Anblick, als befände ich mich auf dem Weg in ein Urlaubsresort.

"Hier sind wir. Hat man dir Neptun bei deiner Erstankunft überhaupt vorgestellt?"

Mein Nicken musste ihr genügen, denn schon wurden wir unterbrochen. Eine Frau öffnete uns die Tür und lächelte mich an. Sie musste so etwa um die sechzig Jahre alt sein, ihr schulterlanges Haar schien schon lange ergraut zu sein und die ersten Zeichen des Alters machten sich in ihrem schmalen Gesicht erkennbar, doch ihre hellblauen Augen strahlten geradezu, als sie ihren Blick mir zuwandte. Sicherlich war sie einmal eine wunderschöne Frau gewesen, auch jetzt noch besaß sie eine einnehmende Ausstrahlung, doch selbst sie konnte nicht über die Misere hinwegtäuschen, die sich hinter ihr abspielte.

Während auf Jupiter gebastelte Himmelszelte und gerahmte Bilder dem Gruppenraum Leben und Farbe verliehen, wirkten die blauen und violetten Papierfische, die von der Decke hingen, vollkommen fehl am Platz. Als befänden sie sich in Trance, saßen mindestens fünf Patienten auf Sesseln und Sofas und starrten Löcher in die Luft. Zwei weitere hatten es sich am Esstisch bequem gemacht und schienen zu zeichnen, wobei sie von einem Betreuer streng unter Beobachtung standen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, sondern schien in seiner ganz eigenen Welt zu leben. Das einzige Geräusch, das ich in der unangenehmen Stille ausmachen konnte, waren entfernte, aufgedrehte Stimmen, die aus dem Radio des Betreuerbüros in den Gruppenraum drangen. Der exakt gleiche graublaue Zuckergussboden, der exakt gleiche Aufbau, die exakt gleiche Verteilung von Zimmern, und doch wirkte Neptun so viel kälter und einschüchternder, als ich es mir während meiner Zeit auf Jupiter hätte ausmalen können.

Hier soll ich also genesen?

"Ich verabschiede mich dann mal. Scarlett, wir werden uns morgen noch einmal in deiner ersten Therapiestunde mit deinem neuen Psychologen sehen. Bis dann wünsche ich dir eine gute Ankunft und eine erholsame Nacht."

Schon war Frau Hendel verschwunden und ließ mich allein mit den Patientenzombies und der mir noch unbekannten Betreuerin, die meiner ehemaligen Psychologin zum Abschied dankend zunickte und sich anschließend meiner annahm.

"Hallo, ich bin Esther. Du musst mich nicht mit meinem Nachnamen ansprechen, das alles hier ist schon unangenehm genug. Hast du gleich zu Anfang bestimmte Fragen an mich oder möchtest du erst einmal die Station etwas genauer kennenlernen?" Auf mein unsicheres Schulterzucken reagierte sie gelassen. "Keine Sorge, wir tun dir hier nichts. Wir wollen nur das Beste für dich, ja?"

Die nächste halbe Stunde verbrachte Esther damit, mich in Neptun herumzuführen und mir jeden kleinsten Ablauf genauestens zu erklären. Anders als in Jupiter war hier in jedem Raum mindestens eine Kamera angebracht, die laut Esther zu unserem Schutz dienten. Nur das Badezimmer bildete ohne Kameras eine Ausnahme, allerdings artete dort die Überwachung in ein mir unbekanntes Gebiet aus: Während des Toilettengangs und Duschens würde ein Betreuer im Raum sein. Innerlich bereitete ich mich bereits auf ein Leben ohne Harndrang vor, doch Esther erkannte meinen geschockten Gesichtsausdruck schnell und bemühte sich sichtlich, mir das Leben auf Neptun schmackhaft zu machen. Nur fruchtete ihre Überzeugungsarbeit nicht.

"In diesem Zimmer wirst du schlafen, zusammen mit Emily und Jennifer."

Ein graublaues Zimmer. Drei Betten, drei Schränke, drei kleine Fenster. Nicht gerade ermutigend. Dessen schien sich auch Esther bewusst zu sein, denn sie lenkte mich geschickt zurück in den Gruppenraum.

"Nun habe ich dich die ganze Zeit vollgeredet, entschuldige. Möchtest du vielleicht erst einmal ankommen und dich orientieren oder hast du jetzt doch noch Fragen, die du mir gerne stellen würde–"

Ein Aufschrei unterbrach sie und brachte alle Anwesenden zum Zusammenzucken.

"Nein, gib ihn mir, NEIN!"

Die zuvor friedliche Szene am Esstisch hatte sich in einen Kampfschauplatz verwandelt. Ein brünettes Mädchen in meinem Alter schrie und schlug um sich, während der Betreuer, der sie und einen etwas älteren Jungen überwachen sollte, ihre Arme auf den Rücken zu drehen versuchte und dabei einen Anspitzer in die Höhe hielt.

"Ich bräuchte hier mal Hilfe", rief er atemlos und versuchte zeitgleich, das Mädchen zur Vernunft zu bewegen. "Hör mal, Emma, wir hatten dieses Gespräch schon. Du darfst dich nicht mehr selbstverletzen!", fuhr er in einem gemäßigteren Tonfall fort.

Zwei weitere Betreuer, die zuvor im Büro Tee getrunken hatten, ein untersetzter Mann und eine kräftige, großgewachsene Frau, mischten sich ein und übernahmen Emma vom offensichtlich überforderten Betreuer, der nur ratlos zurückblieb. Die beiden griffen dem noch immer um sich tretenden Mädchen unter die Arme und bemühten sich, sie möglichst schnell aus der Station zu transportieren, um eine größere Szene zu vermeiden. Ich konnte mir bereits denken, wohin sie Emma tragen würden. Der Time-Out-Raum war mir ins Gedächtnis eingebrannt worden.

"Bitte entschuldige", versuchte Esther mich zu besänftigen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass mir Tränen über die Wangen liefen. "Das passiert hier leider öfter. Oje, und auch noch an deinem ersten Tag. Das tut mir ehrlich Leid, wirklich! Entschuldige mich, ich muss kurz mit der Klinikleitung telefonieren."

So blieb ich alleine zurück und blickte auf das Chaos, das Emma in ihrer Rage hinterlassen hatte. Das war nun mein neuer Alltag.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt