Kapitel 55

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"Kommst du? Das Mittagessen steht bereit."

Ruckartig hob ich meinen Kopf und erwiderte Herr Olsens Blick, der mich besorgt musterte. Ich hatte mich in den Innenhof gesetzt, während viele der anderen Patienten Spaziergänge unternahmen, sich lachend miteinander unterhielten oder vor den Stationen auf dem Sportplatz miteinander Fußball spielten. Die Sonne prallte wie in den vergangenen Tagen erbarmungslos auf meinen Kopf und verstärkte die Kopfschmerzen, die mich schon seit Wochen permanent plagten, nur umso mehr. Eigentlich hatte ich geplant, mich wie üblich während eines solchen Wetters in meinem Zimmer zu verschanzen, doch nur eine Stunde zuvor war ich von Herrn Perkins nach draußen gejagt worden, um seinen Worten nach 'etwas Farbe ins Gesicht zu bekommen'. Dem beugte ich jedoch vor, indem ich mich im Schatten der Blumenranken niederließ. Bei der Wahl meiner Hautfarbe zwischen bleich und rot von einem Sonnenbrand entschied ich mich doch lieber für die erste Möglichkeit.

"Ja, ich bin gleich da."

Während ich mich aufrappelte und innerlich zum Gehen animieren musste, rief Herr Olsen die restlichen Jugendlichen zusammen, die sich allesamt außerhalb des Innenhofs aufhielten. Selbst Evelyn hatte sich überwinden können und saß mit Fay, die hier in der Klinik ihre beste Freundin zu sein schien, auf einer kleinen Wiese. Hatte sie ihr von dem Vorfall erzählt? Immerhin war es nicht einmal einen ganzen Tag her, als sie sich beinahe ausversehen umgebracht hätte. Fay wirkte beim Betreten des Gruppenraums jedoch ungewohnt aufgeweckt und heiter, weshalb ich davon ausging, dass Evelyn kein Wort über dieses Thema verloren hatte. Ich konnte sie aber verstehen, denn auch Fay hatte Sams Erzählungen nach keinen leichten Start in der Klinik gehabt. Genau wie ich litt sie unter anderem an einer starken Zwangsneurose und fühlte sich täglich auf schmerzvolle Weise damit konfrontiert, doch in den vergangenen Wochen schien sich ihr Zustand endlich gebessert zu haben. Sie dann mit solch einer Nachricht aus der Bahn zu werfen hätte Fay mit Sicherheit zerbrochen.

In den vergangenen Stunden hatte ich immer wieder an Evelyn mit ihren aufgeschnittenen Armen denken müssen. Wieso hatte sie sich in diesem Moment verletzen wollen? Warum hatte sie zu tief geschnitten? Wann war ihr bewusst geworden, dass sie sterben könnte?

Ohne mich wäre genau das geschehen und allein darüber nachzudenken sandte mir kalte Schreckensschauer über den Rücken. Wäre ich in meinem Zimmer geblieben oder nach draußen gegangen, hätte ein Mädchen schmerzvoll verbluten können. Still und einsam in den Toilettenräumen einer psychiatrischen Klinik, mit dem abgestandenen Geruch von Urin und dem frischen Gestank ihres eigenen Erbrochenen in der Nase. Was für ein schrecklich, grausamer Tod.

Mir wäre es besser gegangen, denn ich hatte damals alles genau vorbereitet. Vor meinem gescheiterten Selbstmordversuch hatte ich mir genauestens überlegt, was ich bräuchte und wie mein Tod schnell geschähe. Ein sauberer, senkrechter Schnitt in die Pulsader und es würde endlich alles vorbei sein. An diesem verhängnisvollen Tag ging ich in den Supermarkt, grüßte dort die Bekannten meiner Familie mit einem mühsamen, gezwungenen Lächeln und bezahlte an der Kasse für eine Packung Rasierklingen und einen Korb mit frischen Erdbeeren. Auf dem Rückweg, den ich zu meiner eigenen Überraschung erfolgreich zu Fuß bestritt, aß ich die roten Früchtchen eins nach dem anderen und begutachtete sorgsam ihr Äußeres, bevor ich in das leicht saure Fruchtfleisch biss. Alles wirkte, schmeckte und hörte sich intensiver an, als ich erst einmal den sicheren Schlussstrich in Aussicht hatte. Genüsslich sog ich die von Autoabgasen verdreckte Luft ein, betrachtete Kinder auf einem nahegelegenen Spielplatz mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht und konnte sogar den Alltagsgeräuschen etwas abgewinnen. Das Brummen der Autos, das Lachen der Menschen und das Kichern der Kinder waren auf einmal erträglich für mich und bereiteten mir keine Angst mehr. Denn wann würde ich noch einmal die Chance haben, um zu lächeln? Nicht mehr, denn für jedes Lächeln musste ich normalerweise ein Vielfaches an Tränen einbüßen. Doch das würde bald ein Ende finden, sobald ich nur nach Hause gelangt war, mich geduscht, abgetrocknet und in die leere Badewanne gesetzt hatte.

Ein letzter Schnitt.

Ein letzter Schrei.

Ein letzter Schmerz.

Alles wäre endlich vorbei gewesen, doch ich hatte kläglich versagt.

"Möchtest du noch Kartoffelbrei, Scarlett?"

Herr Olsen begutachtete mich auch während des Essens voller Sorge, obwohl ich zwanghaft versuchte, möglichst normal und gelassen zu wirken. Würde ich mich ab nun jeden Tag der Frage stellen müssen, ob es richtig gewesen war, über Evelyns nur knapp verpassten Selbstmord zu schweigen? Konnte ich diese Last überhaupt noch auf meinen Schultern tragen? Ich wusste es nicht, aber dennoch würde ich meine Grenzen austesten müssen, um Evelyn vor der Notfallstation zu bewahren.

Nach dem Mittagessen setzte ich mich wie zuvor in die schattigste Ecke des Innenhofs, während die anderen ihren alltäglichen Beschäftigungen weiter nachgingen. Nach einigen Minuten, in denen ich noch sorgsam mein Umfeld betrachtet hatte, schloss ich die Augen und lehnte mich zurück. Konnte ich für nur einen Moment an nichts denken müssen? Nichts fühlen müssen? Ich versuchte es jedenfalls.

"Hallo?"

Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus und ich schnellte ruckartig aus meiner halbliegenden Position, um meinem Gegenüber ins Gesicht blicken zu können.

"Entschuldige, Scarlett! Oje, es tut mir Leid, ich wollte dich ehrlich nicht erschrecken!"

Ihr langärmliges Shirt, dessen Saum sie sorgsam mit Armbändern befestigt hatte, ließ nichts von ihrem Verband und des gestrigen Ereignisses erahnen. Ihre momentan panisch aufgerissenen Augen jedoch sprachen Bände; unter ihnen hatten sich violette Schatten festgesetzt und feine Äderchen traten deutlich hervor.

"Schon in Ordnung, Evelyn. Mach dir keine Vorwürfe, es ist nicht deine Schuld. Ich bin einfach schreckhaft", versuchte ich sie zu beruhigen und zeigte auf den Platz neben mich, damit sie sich setzte. "Was ist denn?"

Evelyn, die meiner Aufforderung sofort folgte und sich neben mir niederließ, tat sich sichtlich schwer zu reden, weshalb ich durch ein Lächeln versuchte, ihr die Spannung zu nehmen. Ihre Hände zitterten stark, doch das lag mit Sicherheit nicht nur an der offensichtlichen Nervosität, die sie plagte. Zwar konnte ich mich nicht mehr genau an die Menge an Blut erinnern, die sie verloren hatte, doch dieser Blutmangel trug mit Sicherheit zu ihrem Auftreten bei. Wenigstens hatte ihr Gesicht schon deutlich mehr Farbe als gestern Abend, was mich unglaublich erleichterte. Die vergangene Nacht hatte ich wachgelegen und darüber nachgedacht, wie es ihr in diesem Moment ergangen war. Begannen ihre Wunden zu verheilen oder hatte ich beim Versorgen der Schnitte etwas falsch gemacht? Diese Fragen schienen sich nun von selbst beantwortet zu haben, denn es ging Evelyn deutlich besser, als ich befürchtet hatte. Zwar wirkte sie noch sehr wacklig auf den Beinen, doch allein die Tatsache, dass sie sich überhaupt bewegte und nach draußen ging, freute mich insgeheim sehr.

"Ich wollte dir noch einmal danken, Scarlett. Ohne dich wäre ich nicht hier. Um ehrlich zu sein weiß ich gar nicht, was ich sagen soll, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Vorher war mir der Tod immer wie eine Wahl vorgekommen, doch mir wurde heute Nacht bewusst, dass", sie holte tief Luft, "der Tod endgültig ist. Er ist keine Wahl, die man treffen und wieder umändern kann, wenn man merkt, dass sie doch nicht zu einem passt. Danke, dass du mich vor der unwiderruflichen Endstation gerettet und mir eine neue Chance gegeben hast. Das wollte ich nur noch einmal sagen. Vielen Dank, Scarlett."

Mit diesen Worten warf sie mir noch ein schwaches, aber umso ehrlicheres Lächeln zu und rappelte sich wieder auf, um zu Fay zu gehen, die ihre Freundin fröhlich anlachte. Evelyn hatte Recht. Ich konnte ihr gestern eine Chance auf ein neues Leben ermöglichen. Hatte ich also doch das Richtige getan?


-


Was meint ihr? War es richtig, den anderen nichts von Evelyns Fast-Selbstmord zu erzählen oder hätte sie sich doch jemandem anvertrauen sollen?

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt