Kapitel 73

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Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Während ich die viel zu langen Klinikgänge entlangstolperte, schnürte mir die plötzliche Panik immer mehr den Hals zu. Der Zustand der Erleichterung, den ich verspürt hatte, nachdem ich aus Frau Hendels Büro getreten war, konnte mich nicht lange davon abhalten, an das mir bevorstehende Treffen zu denken. Frau Hendel hatte bemerkt, wie erschrocken ich auf ihre Ankündigung reagiert hatte, und doch schien sie mehr an den Erfolgen auf dem Papier interessiert zu sein als meinem Wohlergehen. Ein Treffen mit den Eltern nach wochenlanger Kontaktpause machte sich vermutlich gut in meinen Akten, doch die Folgen ebendieses Aufeinandertreffens würden vermutlich noch eine lange Zeit nachhallen.

Ich hatte Angst, unglaubliche Angst.

Gerade hatte ich die Hälfte des mit gläsernen Wänden versehenen Treppenhauses bezwungen, als mich ein übler Brechreiz überkam. Völlig überwältigt brach ich auf den Stufen zusammen und rang röchelnd um Luft, doch stattdessen fühlte ich mich, als würden die Geister meiner Eltern mich hinterrücks erwürgen. Der Druck auf meinem Rachen wurde nicht geringer und das Gefühl von aufsteigendem Erbrochenen betäubte all meine Sinne, sodass ich mich mit letzter Kraft die letzten Meter zu einem sich in meiner direkten Nähe befindenden Fenster überwand, seinen Griff zur Seite schob und es öffnete, nur um wenige Augenblicke später meinen halben Mageninhalt in die Natur zu entleeren.

Meine zitternden Hände krallten sich in den Fensterrahmen, damit ich nicht vollkommen die Kontrolle über meinen Körper verlor, doch schon bald sank ich kraftlos in mich zusammen und lehnte mich an die Fensterfront. Unter dem Fenster, durch das ich mich gelehnt hatte, klebten kleine Bröckchen von Erbrochenem an der Scheibe, wobei ihr Geruch mir in die Nase stieg und sich mit Leichtigkeit über die Düfte der Natur, die aus dem geöffneten Fenster in das Treppenhaus strömten, hinwegsetzte. Mein Hals schnürte sich erneut zu und ich krabbelte hastig zum Fenster, wobei ich durch mein eigenes Erbrochenes robben musste, um noch rechtzeitig meinen Kopf aus dem Fenster strecken.

Ich fühlte mich ekelerregend und abstoßend, doch in diesem Moment fiel es mir schwer, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hing halb aus dem Fenster und starrte gegen einen verblühenden Hortensienbusch, der sich genau vor mir befand. Es waren nicht einmal zwei Meter bis zum Erdboden, weshalb ich auch keinen Moment an die Idee verschwendete, mich aus dem Fenster fallen zu lassen. Man würde mich dort höchstens mit verstauchten Gliedmaßen und einer Gehirnerschütterung auffinden, doch gestorben wäre ich vermutlich nicht. Viel eher könnte man mich dank dieses neugefundenen Arguments in die Intensivstation verlegen lassen, in der nicht einmal Ausgang erlaubt war. Das würde ich nicht überleben. Ich brauchte die frische Luft, die Bäume, den Teich und die um ihn schwirrenden, fliegenden und hoppelnden Wildtiere.

Noch einige Minuten hing ich dort, mit dem Hortensienbusch vor meinem Gesicht, der mittlerweile ebenfalls mit Erbrochenem bedeckt war. Doch schon bald versiegte der Strom und mein sich ausgepumpt anfühlender Magen gab nichts mehr als Galle preis. Der bittere Gestank zog sich bis tief in meine Nase und klammerte sich um meine Innereien, weshalb ich augenblicklich eine erneute Übelkeit verspürte. Doch ich konnte nicht mehr brechen.

Mein Kopf war taub und gleichzeitig voller Schmerz, als ich ihn langsam anhob und meinen Blick vom vollgespuckten Hortensienbusch auf die Bäume und Wiesen im entfernten Klinikpark richtete. Wenn ich mich konzentrierte, vermochte ich sogar müdes Vogelgezwitscher zu hören. Sie schienen ebenso ausgelaugt wie ich.

Wie würde mein Vater reagieren, wenn er mich hier sehen könnte? Meine Mutter wäre entsetzt, dessen war ich mir sicher. Vermutlich würde sie augenblicklich zu mir rennen, um das Erbrochene, das sich um mich herum befand und scheinbar überall an mir klebte, mit desinfizierten Tüchern zu entfernen und anschließend die verpestete Luft mit Duftsprays zu erfrischen. Sie war schon immer penibel und eine Reinlichkeitsfanatikerin gewesen. Während andere Eltern ihre Kinder im Schlamm und Sand auf Spielplätzen toben ließen und ihnen wohlwollend dabei zusahen, hatte meine Mutter störrisch wie ein Kleinkind neben mir und meinem Bruder gestanden und uns immer wieder aufs Neue ermahnt, uns ja nicht hinzusetzen, wenn die Oberfläche nicht zuvor von ihr poliert worden war. Selbst mein Vater hatte dieses Verhalten schon immer als krankhaft betitelt, doch anstatt sich im Spiegel zu betrachten und ihre Handlungen zu reflektieren, schrubbte und reinigte sie noch länger und intensiver als zuvor. Ihr Verhalten erreichte seinen Höhepunkt, als sie unsere Dusche und Badewanne nach jeder Verwendung säuberte, um ihren Worten nach Kalkflecken zu vermeiden. Doch zumindest mir war bewusst, was sie durch ihre Putzsucht zu verdrängen versuchte; die fehlende Liebe in unserer Familie.

Nicht nur sie, sondern jedes meiner engen Familienmitglieder schien sein Laster zu tragen. Während mein Vater in seiner Firma vollkommen aufging und dafür auch gerne mal die Zeit mit uns abkürzte, vergrub sich mein Bruder in seinem Zimmer und spielte stundenlang Videospiele. Selbst als ich noch zuhause gelebt hatte, waren wir uns kaum über den Weg gelaufen, was nicht nur an mir, sondern ebenso an ihm lag. Kaum hatte ich sein Zimmer betreten, war ich augenblicklich angeschrien und verbannt worden, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Selbst bei unserem Abschied vor meiner Klinikzeit war er mir mehr als zurückweisend gegenübergetreten und hatte mir nicht einmal in die Augen gesehen.

Unwillkürlich musste ich lächeln. Anscheinend war ich doch nicht die einzige Gestörte in meiner Familie. Es schien grausam, sich darüber zu freuen, doch in meiner Situation war genau dies das einzige, was mir irgendeine Art des Trostes spenden konnte. Dass andere ebenfalls unter ihren persönlichen Störungen litten, auch wenn das Leben sie nicht ganz so hart bestrafte wie mich. Jeder trug sein Laster; dabei war es egal, wie groß oder klein es war. Ein jeder litt auf seine eigene Art.

Es vergingen weitere zwanzig Minuten, bis ich schließlich vollkommen verdreckt auf meiner Station ankam und mich augenblicklich in mein Zimmer verzog. Man schenkte mir misstrauische Blicke und ich war mir bewusst, dass ich mich für diesen Auftritt noch verantworten werden müsste, doch in diesem Moment waren mir alle Augen egal, die sich auf mich richteten.

Das Zuklappen meiner Zimmertür versprach Besserung. Gemächlich zog ich mich um, wechselte von einem dreckigen, dunklen Pullover in einen sauberen, dunklen Pullover; von einer dreckigen, dunklen Hose in eine saubere, dunkle Hose. Wie meine Kleidung glich jeder Tag hier dem anderen, auch wenn sich immer wieder Besonderheiten einschlichen. Mal eine aufgeplatzte Naht, mal eine Panikattacke.

Auf einmal hörte ich mir nur allzu bekannte Stimmen aus dem Gruppenraum. Es war ein wahres Durcheinander an Personen, wie mir schien, doch schon nach wenigen Sekunden konnte ich meinen Vater und meine Mutter ausmachen, die sich lautstark bei einem nichtidentifizierbaren Betreuer vorstellten. Doch auch eine andere Stimme erschlich sich meine Aufmerksamkeit; wie die meines Vaters war sie tief und hallte in meinem Kopf wider.

"Wo ist sie denn?"

Es war mein Bruder.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt