Kapitel 83

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"Sind wir soweit?"

Meine schwache Nackenmuskulatur brachte nur ein zaghaftes Nicken zustande. Afzal, der Fahrer des Wagens, der mich in meine persönliche Hölle kutschieren sollte, schloss die Autotür und verstaute mein spärliches Gepäck auf der Rückbank. Er war einige Meter von mir entfernt und würde nicht allzu schnell auf mein Verschwinden reagieren können. Sollte ich es wagen und einfach fliehen? Wäre ich überhaupt schnell genug, bevor er mich einholte?

Auch wenn ich nach über einem Monat im Krankenbett vermutlich nicht zu Höchstleistungen auffahren könnte, schien Afzal ebenso wenig in Form zu sein. Allein das Anheben und Verstauen weniger Gegenstände schien ihm mehr Mühe und Zeit zu kosten, als es für einen Mann in den Mittfünfzigern gesund wäre, und seine rundliche und gedrungene Statur war ihm nicht gerade behilflich bei seinem aktuellen Unterfangen. Durch seine bereits gräulich verfärbten Koteletten und die tiefen Krähenfüße, die in seinen Augenwinkeln saßen, wirkte er auch rein äußerlich deutlich älter, als er eigentlich war. Hinter mir hörte ich nichts als Ächzen und Röcheln, doch konnte ich nichts tun, als in dem eingesessenen Ledersitz zu verweilen, mit meiner dunkelgrauen Umgebung zu verschmelzen und mich auf meine noch schwerfällige Atmung zu konzentrieren. Doch auf einmal fanden die gepeinigten Geräusche ein Ende. War Afzal in Ohnmacht gefallen oder hatte er es tatsächlich geschafft?

Meine Antwort sollte ich bekommen, als er sich mit seinem tonnenförmigen Körper rechts neben mir in den Fahrersitz fallenließ. Der Moment war vorbei. Eine Flucht wäre nun unmöglich.

"Na dann wollen wir mal."

Seine von einem dichten, ebenfalls ergrauten Vollbart umsäumten Lippen verzogen sich zu einem herzlichen Lächeln, das ich nur halbherzig erwidern konnte. Viel zu lebendig erschien die Erinnerung an das Mädchen im Klinikflur, das von mehreren Pflegern an ihren Gliedmaßen hochgehoben und auf eine Trage gespannt worden war. Würde ich jemals im Time-Out-Raum enden oder bliebe mir dieses Schicksal erspart? Ich wollte meine Gedanken nicht in diesen Ort in meinem Gedächtnis lassen, doch nun schien es kein Zurück mehr zu geben vor der Dunkelheit, die mich mit offenen Armen empfing–

"Was hörst du gerne für Musik?"

Mein Herz schien vor Überbelastung aus meiner Brust springen zu wollen. Ob aus Enttäuschung oder Freude über die Ablenkung, konnte ich nicht sagen. Teilnahmslos zuckte ich mit den Schultern und überließ ihm somit das Kommando über die musikalische Untermalung meiner Reise zum Schafott. Man würde mich nicht enthaupten müssen, denn meinen Kopf hatte ich schon lange verloren. Er war noch immer in meinem Klinikzimmer, neben der blutigen Klinge, meiner durcheinandergeworfenen Kleidung und Sams Bett. Doch dieses Zimmer gehörte nicht mehr zu mir. Ich hatte es aufgegeben, als ich meine Narben ein erneutes Mal öffnete und Hoffnungen auf ein endgültiges Ende des Schmerzes in mir schürte. Nur erfüllte das Leben nicht jeden Wunsch.

"Möchtest du reden? Die Fahrt wird noch mindestens eine halbe Stunde dauern, aber das kennst du ja schon."

Dass ich bei der Fahrt zum Krankenhaus nicht bei Bewusstsein gewesen war, schien der arme Mann nicht zu wissen. Hier saß er also mit einer gestörten Sechzehnjährigen in einem Auto auf dem Weg zu einer psychiatrischen Klinik und versuchte, lockere Konversation zu betreiben. Bisher hatte ich Afzal nur aus der Distanz gekannt, wenn er in der Klinik von Station zu Station geschwirrt war und sich um scheinbar alles zu kümmern schien. Wie er mir auf dem mühsamen Weg aus meinem Krankenhauszimmer bis zu seinem Auto erzählt hatte, bezeichnete er sich gerne als 'den Inder für alle Fälle'. So reichte er unter anderem medizinische Dokumente an Psychologen und Betreuer weiter, kümmerte sich um die Organisation der Stationszuteilung und übernahm hin und wieder den Fahrdienst. Dazu gehörte anscheinend auch, eine Suizidgefährdete wie mich von einer medizinischen Einrichtung zur nächsten zu befördern.

Ohne Frage hatte sich Afzal mir gegenüber nett und zuvorkommend verhalten, doch ich konnte nicht mit ihm sprechen. Durfte und wollte nicht, denn meinen Schwur des Schweigens hielt ich ausnahmslos ein. Er schien meinen Zwiespalt zu bemerken und mischte sich in meine gedankliche Diskussion ein.

"Weißt du, du musst auch nichts sagen, wenn du das nicht willst. Wäre es dir lieb, wenn ich alleine spreche und dir ein bisschen was erzähle? Von mir, meiner Familie, meiner Arbeit? Das darf ich zwar offiziell nicht, aber einer alten Plaudertasche wie mir fällt das schwer."

Mein Lächeln war ehrlich. Das erste Mal seit langer Zeit. Afzal lachte auf und richtete seinen Blick augenblicklich wieder konzentriert auf die Straße.

"Nun gut, wenn du möchtest... Wo fange ich denn an?", murmelte er mehr zu sich als zu mir und strich sich über den Bart. "Ah, meine Söhne! Ich habe fünf, um genau zu sein. Der älteste ist einundzwanzig und wohnt nicht mehr zuhause, der zweite ist mittlerweile siebzehn und dann gibt es noch die Drillinge. Die waren eigentlich nicht in dieser Menge geplant", gab er unter einem verliebten Grinsen zu. "Meine Frau wollte nach zwei Jungs endlich ein Mädchen als Verstärkung zu Hause, doch auch vor elf Jahren bekamen wir keine Tochter. Stattdessen gleich dreifache Mannskraft, man glaubt es kaum! Sonali, so heißt meine Verehrte, wollte es gar nicht wahrhaben und bekam gleich ziemliche Panik, aber ich fand es seit dem Augenblick, als wir davon erfuhren, einfach super. Auch wenn insbesondere die ersten Monate unfassbar stressig waren, hat es sich ausgezahlt, es noch ein drittes Mal zu probieren. Letztendlich sind unsere kleinen Nachzügler genau das gewesen, was unserer Familie noch gefehlt hatte. Nicht dass ich kein Mädchen wollte, aber diese Drillingsschwangerschaft schien einfach ein Wink des Schicksals gewesen zu sein, dass wir anscheinend ausschließlich dazu in der Lage sind, Jungs zu machen."

Ein Wink des Schicksals, so nannte er das? Etwas Unerwartetes, vielleicht sogar Unerwünschtes, das sich letztendlich als genau das Richtige entpuppt?

"Naja, mittlerweile hat sich auch Sonali damit abgefunden", gab er zwinkernd zu und lächelte erneut.

Ich erwiderte seine Geste und begann, mich allmählich zu entspannen. Afzal würde mir nichts tun, ich musste mich nicht fürchten. Diese verschwendete Energie sollte ich viel eher in die Planung der nächsten Wochen investieren und wie ich Neptun überleben könnte, ohne mich selbst zu verlieren. Ich hatte die dortigen Patienten mit eigenen Augen gesehen. Nach und nach mutierten sie zu Gestellen, die von der kühlen Atmosphäre der Stationsräume nichts mehr zu spüren schienen. Sie wurden zu einem Teil der Klinik und verschmolzen untrennbar mit ihr, gingen nahtlos in sie über und zeigten nur noch in seltenen Fällen irgendeine Art der emotionalen Regung.

Ich wollte nicht wie sie werden, wollte nicht schmelzen, meine ursprüngliche Form verlieren und zu einer teilnahmslosen Hülle mutieren, die mit ihren Gedanken ausschließlich in fernen Welten verweilte. Doch ich war auf dem besten Weg dahin.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt