Kapitel 90

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Mit einer quietschenden Zimmertür begann mein neuer Alltag.

"Steht ihr bitte auf? Frühstück gibt's in zehn Minuten. Emily, du bist heute mit dem Adventskalender dran", rief Tommy in den Raum und war so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, stumm im Bett zu liegen, während sich meine Umgebung langsam in Bewegung setzte. Selbst Jennifer kletterte aus ihrem Bett, die Augen noch immer aufgedunsen von ihren nächtlichen Tränen, und bemühte sich, nach angemessener Kleidung für den heutigen Tag zu suchen.

Erst jetzt erkannte ich das volle Ausmaß ihres Zustandes. Was das Mondlicht der letzten Nacht nicht erleuchten konnte, wurde nun der hellen Morgensonne präsentiert. Narben zierten nicht nur Jennifers Dekolleté, sondern auch ihre Arme, Beine und den Teil ihres Unterbauches, den ich durch ihr hochgerutschtes Top erkennen konnte. Die Wunden mussten tief gewesen sein, denn anstelle von unauffälligen Strichen bot sich ein vollkommen anderes Bild. Die Ebenmäßigkeit ihrer dunklen Haut wurde immer wieder unterbrochen durch tiefe Krater und Verfärbungen, die mir bei einem Blick auf meine Unterarme nur allzu bekannt vorkamen.

"Scarlett?" Emily stand vor meinem Bett und sah mit ausdruckslosem Gesicht auf mich herunter. "Hast du nicht gehört? Frühstück."

Ich brachte lediglich ein motivationsloses Nicken hervor und spürte auf einmal, wie jemand in meinen Bauch pikste. Mein Brummeln war vermutlich noch in den angrenzenden Räumen zu hören.

"Emily, bitte nicht."

"Aufstehen."

"Aber verstehst du nicht, dass–", verteidigte ich mich, wurde jedoch prompt unterbrochen.

"Ich verstehe sehr wohl. Du hast einen Tiefpunkt – aus welchem Grund auch immer – und möchtest dich unter deiner Bettdecke verkriechen. Kenne ich selbst. Und damals wäre es vermutlich besser gewesen, wenn es jemanden in meinem Leben gegeben hätte, der mir in den Bauch gepikst und mich genervt hätte. Also steh auf. Jetzt. Und zieh dich an. Deine Schlafkleidung ist beim Frühstück vermutlich eher unangebracht und deine Hände musst du vor dem Essen auch noch waschen. Vielleicht könntest du deine Haare auch noch bürsten, denn deine Frisur ähnelt einem zerrupften Vogelnest. Auf jetzt!"

Sie trat drei Schritte zurück, verschränkte die Arme und fixierte mich mit ihrem eisernen Blick. Keine emotionale Regung, kein Nachgeben, kein Sarkasmus. Am liebsten hätte ich gelacht und gleichzeitig geweint. Emily war so herrlich anders im Vergleich zu den Menschen, die in den letzten Monaten um mich herumgewuselt waren und mich wie zerbrechliches Porzellan behandelt hatten.

"Wie alt bist du eigentlich?"

Die Frage lag mir schon zu lange auf meiner Zunge und ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Einerseits war da ihr strenges, kontrolliertes Auftreten, das vermuten ließ, dass sie zu den Ältesten hier gehörte, andererseits sagten mir ihre großen Augen und der noch etwas kindliche Ausdruck im Gesicht etwas anderes.

"Zwölf. Stehst du jetzt auf?"

Sie ist zwölf Jahre alt. Da möchte ich nicht wissen, was sie in ihren jungen Jahren schon alles durchmachen musste, um hier zu landen.

"Interessiert dich mein Alter nicht?", fragte ich widerwillig und schwang meine Beine neben das Bett. Allein diese Aktion forderte schon den Großteil meiner Energie ein.

"Nein, das ist hinfällig. Ich schätze, du bist siebzehn Jahre alt."

Dieses Mädchen verwunderte mich mit jeder Sekunde mehr, doch ich lächelte. Emily erwiderte meine Geste, auch wenn es schien, als wäre ihr diese Regung fremd.

"Gibt es noch andere Dinge, die du schon längst über mich weißt, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe?"

Nach einer kurzen Denkpause, in der sie ihre Bettdecke zum fünften Mal innerhalb der letzten Minuten glattstrich, warf sie mir lediglich ein siegessicheres Grinsen zu und verschwand aus dem Zimmer.

Ich mag sie.

"Noch fünf Minuten! Ich habe bisher nur die Hälfte von euch gesehen!"

Chesters schnarrende Stimme verursachte mir Kopfschmerzen und ein Teil der Lebensfreude, die Emily mir durch ihren Auftritt geschenkt hatte, verließ mich schon wieder, doch ich stand auf und warf einen Blick in meinen Koffer. Eigentlich hätte ich ihn schon gestern ausräumen sollen, doch ich war noch nicht bereit dazu gewesen. Vielleicht würde es schon heute soweit sein, doch ich wäre nicht überrascht, wenn ich mich noch nicht überwinden könnte. Den Koffer auszuräumen bedeutete für mich, angekommen zu sein. War das hier schon der Fall?

Mein Blick schwankte zwischen einem schwarzen und einem zitronengelben Pullover. Während der dunkle aus einfachem Stoff gearbeitet war und nicht weiter auffiel, bestand der gelbe aus augenscheinlich teurer Wolle und aufwändigen Strickmustern. Der Rundausschnitt lag nicht zu eng am Hals, dass er seinen Träger strangulieren würde, doch er war auch nicht zu offen geschnitten, als dass ich mich damit unwohl fühlen würde. Ich hatte ihn mir vor sicherlich mehr als einem Jahr gekauft, aber nie angezogen. Bis heute.

Er fühlte sich weich in meinen Händen und an meinem Körper an; weich, warm und gemütlich. Genau richtig für das, was ich heute brauchte: Einen Rückzugsort, in dem ich mich wohl fühlte und gleichzeitig dennoch ein wenig aus meiner Komfortzone trat.

"Na also, geht doch", rumorte Chester mit gekräuselten Lippen, während ich zwischen Alvin und einem mir fremden, aber wunderschönen Mädchen in meinem Alter platznahm. Dabei war ich nicht einmal die Letzte. Zwei weitere Patienten kamen schnellen Schrittes aus dem Badezimmerflur und ließen sich auf ihren Stühlen nieder.

"Einfach ignorieren." Alvin zwinkerte mir zu und gab mir unter dem Tisch mithilfe seines Mittelfingers zu verstehen, was er von dem griesgrämigen Betreuer hielt. "Schöner Pullover. Hätte nicht gedacht, dass du dich so farbenfroh kleidest. Find ich gut."

Tommy begann zu sprechen und unterbrach unsere Unterhaltung, doch ich lächelte Alvin dankend zu, auch wenn meine Ohren dabei leicht rot anliefen. War ich jetzt 'farbenfroh'? Irgendwie machte mich diese Bezeichnung glücklich.

Betont unauffällig wandte ich mich wieder meiner anderen Sitznachbarin zu und betrachtete sie, während ihre Aufmerksamkeit auf einem Gärtner im Innenhof lag. Sie war wirklich atemberaubend schön. Ihre langen Wimpern verliehen ihrem ansonsten ungeschminkten Gesicht etwas Mystisches, geradezu Unnahbares, und auch der Rest ihrer Erscheinung war einnehmend. Ihr olivfarbener Hautton – sie schien pakistanischer Abstammung zu sein – ergab zusammen mit der geraden Nase, den großen, dunklen Augen und vollen Lippen ein Bild, das wirkte, als käme sie direkt vom Laufsteg.

In der Zwischenzeit hatte Emily aus einem Jutebeutel, der mit weihnachtlichen Motiven bestickt war, einen Zettel herausgezogen und las laut vor: "Beim Mittagessen gibt es Schokopudding mit Vanillesoße für die ganze Station." Besonders die jüngeren Patienten verfielen nach dieser Verkündung in aufgeregtes Tuscheln und leckten sich voller Vorfreude die Lippen. Vielleicht würde ich auch etwas essen, selbst wenn ich keinen Appetit hatte. Seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten, war mir kein Dessert unter die Augen gekommen.

"So, dann wollen wir mit dem Essen beginnen. Schlagt zu", eröffnete Tommy das Frühstück und schlug energisch in die Hände.

Um mich herum begann leises Klappern von Geschirr, das mich zurückwarf in meine ersten Tage auf Jupiter. So unsicher hatte ich mich gefühlt, bis Sam nach einer Mahlzeit auf mich zugekommen war und mir angeboten hatte, mein Geschirr abzuräumen. Von da an war alles besser geworden, bis–

Nein. Das war die Vergangenheit. Ich musste im Jetzt leben.

"Alvin? Könntest du mir den Brotkorb reichen?"

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt