Kapitel 81

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Es hing keine Uhr im Zimmer und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich am Sonnenstand zu orientieren. War es tatsächlich bereits Abend oder doch erst später Nachmittag? Ich wusste es nicht und mit der Zeit wurde es mir gleichgültig. Ob morgens, mittags, abends oder nachts, ich hatte zu jeder Tageszeit die gleichen körperlichen und seelischen Schmerzen. Wie viele Tage waren vergangen, seit ich hier eingeliefert worden war? Vielleicht waren es sogar Wochen? Ich vermochte es mir nicht vorzustellen und so unterließ ich meine sinnlosen Anstrengungen, irgendeine Art von Halt an etwas so Normalem wie der Uhrzeit zu finden. Es war egal.

Als ich mich bereits mit dieser Erkenntnis anzufreunden drohte, wurde ich jedoch abrupt in meinem Beschluss unterbrochen, für den Rest meines Lebens in einem meinungslosen und künstlichen Zustand vor mich hin zu vegetieren. Eine Krankenschwester trat ein. Sie schien jung zu sein, etwa Anfang ihrer Zwanziger, und hatte ihren langen, wasserstoffblonden Haaren mit einigen pinken Strähnchen etwas Farbe verliehen. Sie trug kaum Schminke, doch ihr braungebrannter Körper im Kontrast zu ihrem bleichen Gesicht ließ erahnen, dass sie normalerweise viel deckendes Makeup trug. Ihre Beine waren kurz und sie brauchte eine Weile, bis sie bei meinem Bett ankam und sich samt einer Checkliste neben mir positionierte. Erst dann schien sie zu begreifen, dass ihre Patientin aufgewacht war.

"Ach du Sch– meine Güte! Du bist ja wach! Bitte entschuldige, heute ist auf der Intensivstation unglaublich viel los und wir kommen kaum hinterher bei all der Nachfrage. Gerade eben hatte ich noch mit Steph zusammen Telefondienst und lass mich dir sagen: Es gab keine ruhige Minute. Immer wieder Anrufe." Ich hatte noch kein einziges Wort gesprochen, doch sie redete, als gäbe es kein Morgen. "Nun gut, da du jetzt aufgewacht bist, wäre diese Checkliste hier", sie riss das Papier vom Klemmbrett und schmiss es auf einen Beistelltisch, "für den Arsch. Jetzt geht es ans Untersuchen! Ach so, ich heiße Isabel und bin deine Krankenschwester für heute Nachmittag."

Also war es doch noch nicht Abend. Mein Blick schweifte von Isabel ab und richtete sich wieder auf den orangefarbenen Himmel. Es wurde Winter. Schon immer hatte ich den Sommer gehasst und den Winter geliebt. Die kurzen Tage und schnell eintretende Dunkelheit hatten es mir als Kind ermöglicht, im Mondschein auf meinem Fensterbrett zu sitzen und nächtelang zu lesen. Im Sommer gab es nichts außer Hitze und Sonnenschein, der mich blendete und wie einen Vampir im Schatten meines Zimmers verharren ließ, bis es endlich dunkler wurde. Ich hatte wohl schon immer einen Hang zu krankhaftem Verhalten gehabt.

"Also, beginnen wir mal mit deinen Reflexen, in Ordnung?"

Ich nickte widerstrebend. Diese Frau sollte nicht an mir herumhantieren, ich kannte sie noch nicht einmal eine volle Minute. Während Isabel an meinen Knien und meinem Brustkorb testete und mich immer wieder abwartend ansah, ließ ich meinen Blick auf dem Geschenketisch zwischen den beiden Türen ruhen. Wer hatte all dieses Zeug hierhergebracht? Isabel schien meinen Blick zu bemerken und verfiel erneut ins Reden.

"Das haben deine Familie und Freunde herbringen lassen, weißt du?"

Einem sarkastischen Grunzen konnte ich nicht widerstehen. Familie und Freunde. Beides war mir fremd. Doch anstatt einfach zu schweigen und mich meinen Gedanken zu überlassen, tat Isabel das, was sie am besten konnte.

"Soll ich dir ein bisschen was über deinen Zustand erzählen? Auf Genaueres wie deine Behandlung oder so darf ich ja nicht eingehen, aber es ist doch doof für dich, so im Dunkeln zu schweben."

Anscheinend erwartete sie eine Antwort. Ich nickte.

"Gut, dann lege ich mal los. In deiner Akte steht, dass du vor sechs Tagen hierhergebracht worden bist. Die erste Nacht nach der Operation war etwas kritisch, aber danach ging es stetig bergauf, wenn auch nur langsam. Eigentlich überprüfen ich und andere Krankenpfleger alle zwei bis drei Stunden deinen Zustand, aber heute... Naja, wie gesagt läuft irgendwie alles schief und wir sind total überfüllt. Echt Scheisse. Wie lange bist du denn schon wach?"

Könnte ich sagen, wenn in diesem Raum eine verdammte Uhr hängen würde. Ich zuckte mit den Schultern.

"Naja, hoffentlich musstest du nicht allzu lange warten. Aber hey, jetzt bin ich ja hier!"

Sie gackerte. Ihr Lachen offenbarte ein Kaugummi, das sie unter ihrer Zunge zu verstecken schien. Das war sicherlich nicht erlaubt, doch ich schwieg. Sollte sie doch an ihrem dämlichen Kaugummi ersticken.

"Du bist eher so die Schweigsame, oder? Kann ich verstehen, so war ich früher auch. Aber dann mit achtzehn Jahren kam der Ausbruch. Boom! Auf einmal war ich eine komplett andere Person. Total extrovertiert und so. Vielleicht hast du das ja auch schon gemerkt."

Und wie. Ich nickte.

"Okay, dann schauen wir jetzt mal nach deinen Werten", fuhr Isabel fort und wandte sich zeitgleich den Geräten zu, deren Geräuschkulisse ich schon gar nicht mehr wahrnahm. "Dein Herz scheint in Ordnung zu sein und der Rest ist den Umständen entsprechend noch etwas wacklig, aber das besprichst du am besten mit Doktor Orys."

Augenblicklich erröteten ihre Wangen und ihr Dekolleté, das ich ausgiebig begutachten musste, als sie die Atemmaske von meinem Kinn entfernte und neben dem Bett auf einen Tisch legte. Dieser Doktor Orys schien ziemlich begehrt zu sein, zumindest Isabel hatte offensichtlich etwas für ihn übrig. Mir war es egal. Ob Orys oder Frankenstein, meine Werte wären die gleichen. Noch nie hatte ich mich derart unmenschlich gefühlt wie in diesem Moment. Normalerweise hätte mich Isabels Schwärmen für den Doktor amüsiert, doch momentan war mir ihr gesamtes Auftreten einfach nur lästig. Wie lange diese Untersuchung wohl noch dauern würde?

"Gut, ich glaube, wir sind erst einmal fertig hier. Ich sage gleich dem Doktor Bescheid, lasse ihm deine Werte zukommen und dann sehen wir weiter."

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und verließ den Raum. Kaum waren sie und ihre Wasserstoffhaare aus dem Zimmer verschwunden, konnte ich endlich wieder aufatmen. Vielleicht lag es auch nur an Isabels extrovertierter Persönlichkeit, doch das Missfallen, das ich schon länger für Menschen im Allgemeinen hegte, wandelte sich langsam in einen regelrechten Hass um. Ich wollte einfach nur noch für den Rest meines Lebens alleingelassen werden und niemanden mehr sehen müssen, selbst wenn das bedeutete, für immer in diesem Raum eingesperrt zu sein. Keinen Doktor Orys, keine Isabel und erst Recht keine Familie und Freunde.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt