Kapitel 39

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"Gehen wir zusammen zu unserer Schulstunde?"

Die zaghafte Stimme von Arthur unterbrach meinen Gedankenfluss und ich sah auf, um in seine weitgeöffneten, grünen Augen zu blicken. Mittlerweile waren schon mehrere Tage seit seinem Outing vergangen, doch noch immer schien er etwas unsicher über seine jetzige Rolle zu sein. Erst gestern hatte Ozzy ihn ausversehen mit seinem alten Namen angesprochen, was ihn sofort dazu gebracht hatte, mit gesenktem Kopf in seinem Zimmer zu verschwinden. Arthur war noch immer sehr empfindlich, also achtete ich in seiner Gegenwart immer darauf, ihm ein aufmunterndes Lächeln oder einen kurzen, freundlichen Blick zuzuwerfen, um die Mauer, mit der er sich sonst so gerne vom Rest der Gruppe distanzierte, langsam aufzubrechen.

Es war merkwürdig, dass ich jemand anderem Beistand leisten konnte, denn eigentlich war es mir nicht einmal möglich, mir selbst zu helfen.

Die letzten Nächte waren schwierig gewesen. Immer wieder war ich in der Dunkelheit aufgewacht; mit kratzenden Handgelenken und pulsierenden Adern, die mich geradezu anschrien, sie zu öffnen. Bisher konnte ich dem Drang noch widerstehen, doch jede weitere Nacht stellte eine Herausforderung dar, vor der es mir graute.

In diesem Moment wurden meine müden Augen jedoch von der Sonne gegrüßt, als ich in den Innenhof unserer Station trat. Es war fast schon dubios, wie unterschiedlich meine eigene Gedankenwelt sich von der Realität – der Außenwelt – unterschied; fast wirkte es, als wollte die Sonne mich mit ihrem freundlichen Glühen aufwecken und zum Singen und Tanzen überreden wollen.

Doch nicht mit mir.

Mit Arthur an meiner Seite ging ich den mittlerweile gewohnten Schulweg entlang, ohne auch nur ein Wort über sein Outing oder ähnliche Probleme zu verlieren. Ich spürte, dass es ihm noch immer sehr unangenehm war, doch meiner Unterstützung konnte er sich sicher sein. Es würde dauern, aber irgendwann würde er selbstbewusst zu sich selbst stehen können; dessen war ich mir gewiss.

"Ah, wir sind da", schnaufte Arthur erleichtert, als sich das große Schulgebäude vor uns auftat; scheinbar litten wir unter ähnlich kurzer Ausdauer, denn auch ich musste seit Längerem schwerer atmen.

Dank unserer letzten vereinten Kräfte konnten wir uns zusammen gegen die schwere Eingangstür stemmen und betraten nach einem anstrengenden Treppenaufgang den Schulflur. Mal wieder herrschte angeregtes Treiben, doch ich versuchte mich weitestgehend zu konzentrieren, damit ich nicht die Kontrolle verlor und inmitten dieser Menschenmenge eine Panikattacke erlitt.

Arthur und ich betraten gleichzeitig den Matheraum, der meinem Gefühl nach bei jedem Besuch vollgestellter und unordentlicher wurde. Frau Jenkins schien jedenfalls in großem Stress zu sein, denn bereits nach einer halben Stunde entließ sie uns wieder völlig zerstreut aus dem Unterricht. Arthur schien es nicht besonders zu stören, denn ich hatte durch sein ratloses Murren und verwirrte Gesichtsausdrücke in vorangegangenen Mathestunden bereits mitbekommen, dass Stochastik nicht unbedingt zu seinen Leidenschaften gehörte.

Da für den restlichen Tag nichts auf meinem Tagesplan stand, stellte ich mich auf einen gewöhnlichen Mittwochvormittag ein, doch kurz nachdem ich den Fuß über die Schwelle der Station gesetzt hatte, wurde ich von Frau Hendel abgefangen. Es war ungewohnt, sie außerhalb ihres Büros zu sehen; hier wirkte sie beinahe wie ein Fremdkörper für mich.

"Hallo, Scarlett. Möchtest du mir kurz in mein Büro folgen?"

Nein, möchte ich nicht. Vielen Dank der Nachfrage.

Ich unterdrückte meine sich mir penetrant aufdrängenden Gedanken, die ich nur zu gerne ausgesprochen hätte, und folgte meiner Therapeutin brav in ihr Behandlungszimmer, nachdem ich Arthur noch kurz zum Abschied zugelächelt hatte.

Sobald die kahlen Backsteinwände des Klinikflurs mich empfingen, fühlte ich eine kalte Umarmung, die meinen gesamten Körper ergriff. Wie viele Menschen schon in diesen Wänden umhergegangen waren und hier endeten, wollte ich mir gar nicht ausdenken und versuchte daher, meine Gedanken auf hellere Pfade zu leiten. Was konnte mich jetzt noch aufheitern?

Sam.

Letzte Woche gab es zum Mittagessen Pfannkuchen, was einen Aufschrei der Begeisterung unter meinen Mitpatienten und insbesondere natürlich Sam ausgelöst hatte. Als das Festmahl schließlich serviert wurde, hatte meine chaotische Mitbewohnerin selbstverständlich Blödsinn gebaut, bis sie von Frau Foxworth auf unser Zimmer verbannt worden war. So war sie also abgetreten, mit Schokoladensoße in den kurzen Haaren und einem Apfelmusbart.

Der Weg zu Frau Hendels Büro schien mit jedem Gang länger zu werden und mir fiel das Atmen immer wieder schwer, doch darauf achtete sie nicht. Stattdessen gab sie den militärisch strammen Schritt vor, den ich bereits von ihr gewohnt war, und brachte mich somit zum Hecheln. Als ich die dunkelgraue Bürotür vor mir sah, fiel mir ein großer Felsen vom Herzen und ich atmete tief auf.

Noch immer war ich vollkommen verwirrt über die plötzliche Vorverlegung meines Therapietermins, der eigentlich erst morgen hätte stattfinden sollen, doch ich schluckte die sich ankündigende Nervosität und das Unwohlsein so weit es ging hinunter. Trotzdem pochte mein Herz bis zum Anschlag, als mich Frau Hendel kurzfristig vom Betreten des Raumes abhielt. Was war denn los? Sie wollte doch, dass ich in ihr Büro kam?

"Scarlett, da gibt es noch eine Sache, die ich dir sagen muss. Ich möchte, dass du ruhig bleibst und nicht aus der Haut fährst, doch wir haben uns gedacht, dass direkte Konfrontation die beste Möglichkeit für dich wäre, die alten Hürden endlich überwinden zu können. Behalte das im Kopf, wenn ich diese Tür öffne."

Meine vorige Panik kehrte auf einen Schlag zurück und ich spürte meinen Kopf arbeiten.

Wir? Wer gehörte denn noch dazu?

Entschlossen griff ich nach der Türklinke und drückte sie auf, um in zwei mir allzu gut bekannte Gesichter blicken zu müssen.

Die meiner Eltern.

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