Kapitel 19

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Blau.
Alles, was ich sah, war blau.

Durch mein von getrockneten Tränen verklebtes Sichtfeld versuchte ich meine Umgebung zu erfassen, während mein lauter und viel zu schneller Herzschlag meinen Brustkorb zu zersprengen drohte.

Wo bin ich?

Nach meiner bisherigen Auffassung war ich allein und befand mich in einem kleinen Raum, dessen Boden, Wände sowie Decke in einem tiefen Marineblau gestrichen waren. Alles war in kompletter Monotonie, die einzige Farbabwechslung bildeten die kleinen Nägel, die das Bett an der Wand befestigten. Sonst war alles blau.

Was zum Teufel ist das alles hier?

Vorsichtig richtete ich mich auf und wanderte ziellos in der Kammer herum, nachdem ich die Tür überprüft und an ihrer Klinke gerüttelt hatte.

Ich war eingeschlossen.

Eingeschlossen mit mir.

Eingeschlossen mit meinen Gedanken.

Es gab keinen Ausweg für mich, keine kleine Ablenkung durch Vogelgezwitscher oder durch die Wände tönende Gespräche von Mitbewohnern. Mein Angstpegel stieg stetig, ohne jegliche Aussicht auf Beruhigung.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Mit unsicheren Schritten bewegte ich mich zurück zum Bett, welches das einzige Möbelstück in diesem Raum darstellte, und klammerte mich mit meinen weißen, zitternden Händen an der blauen Bettkante fest.

Blau und Weiß. Weiß und Blau.

Bei diesen Gedanken sah ich auf meinen Körper hinab. Ich trug einen weißen, weitgeschnittenen Schlafanzug; zumindest sah es so aus. War ich in einer Art Time-Out-Room gelandet? Aber wieso?

Von Panik durchschüttelt stand ich ruckartig wieder vom Bett auf und ging in Gedanken die letzten Momente durch, an die ich mich noch erinnern konnte.

Ich war bei Frau Hendel gewesen und wir hatten meine erste Therapiestunde. Danach fühlte ich mich widerwärtig und abstoßend, sodass ich Herrn Olsen darum bat, duschen zu können. Dann...

Ja, was dann?

Ich erinnerte mich nicht mehr.

Die Wassertropfen.

Das laute Quietschen der Tür unterbrach meinen Gedankenstrom und ließ mich schreckhaft zusammenfahren. Schnell verbarrikadierte ich mich hinter dem Bett, welches mir jedoch wenig Schutz bieten konnte. Eine pummelige, kleine Frau mit roten Locken und einer schmalen Brille, die am Ausschnitt ihrer Ärzteuniform hing, trat ein und musterte mich kritisch, bevor sie sich schließlich nach Sekunden des Schweigens vorstellte.

»Ich bin Frau Dallmayer, die Stationsärztin von Saturn und Jupiter. Du hattest vormittags einen Zusammenbruch und wurdest hier in die Krankenstation gebracht. Während du dich erholt hast, habe ich das Nötigste getan und dich versorgt, doch ich würde auch gerne noch persönlich mit dir reden, um mehr über deinen akuten Zustand zu erfahren. Ist das in Ordnung für dich?«

Ich nickte. Wahrscheinlich war es sowieso eine rhetorische Frage gewesen.

»Gut, dann beginne ich mal«, erzählte die Ärztin im Plauderton, während sie sich etwas breiter hinstellte und ihren Rücken an die mir gegenüberliegende Wand lehnte.

»Du hattest einen totalen Kreislaufzusammenbruch. Erleidest du so etwas öfter?«

Nicken.

»Besonders in letzter Zeit?«

Nicken.

»Hm... Du nimmst momentan Medikation, nicht wahr?«

Nicken.

»Ich glaube, wir sollten an der Dosierung etwas herumschrauben und vielleicht noch ein neues Medikament einsetzen«, murmelte sie und machte sich eifrig Notizen in meinen Akten. Nach einigen Momenten sah sie auf und blickte mich durchdringend an.

»Deine Eltern wollten dich ja ursprünglich heute besuchen kommen, doch aufgrund deiner Probleme hielten wir alle es für besser, mit Kontakt von außen erst einmal noch zu warten.«

»Wer sind ›wir alle‹?«

»Oh, das sind Chefärzte, Betreuer und Psychologen. Wir haben auch noch etwas anderes über dich beredet«, sie neigte sich zu mir hinunter und baute Augenkontakt auf. »Wir finden, dass du viel zu viel Zeit deines Alltags in deinem Zimmer verbringst, daher haben wir dir vorzeitig Ausgang verschrieben. Falls du dich fragst, was das ist: Jeder Patient hat nach ein paar Wochen der Eingewöhnung eine persönlich angepasste Zeit, in der es ihnen frei steht, sich frei auf dem Klinikgelände zu bewegen. Es gibt einen kleinen und gerade erst neuangelegten Park, der nur eine Minute Fußmarsch von hier entfernt ist und wahrscheinlich der perfekte Ort für dich wäre, um ein wenig abzuschalten. Vorerst habe ich dir für jede Halbtagsschicht zwei dreißigminütige Ausgänge verschrieben, doch falls es dir gefällt, kann ich das jederzeit erweitern. Sag einfach einem deiner Betreuer Bescheid, wenn du nach draußen möchtest, und achte bitte auf die Zeit. Wenn du deutlich zu spät kommen solltest, müssen deine Ausgänge leider eingeschränkt werden.«

Ihre Stimme klang wie die eines Kleinkindes, doch ich fühlte mich wie eins. Dieses betont verständnisvolle Lächeln, das sie mir nach jedem Satz zuwarf, ging mir nach dieser kleinen Rede so auf die Nerven, dass es mir schwerfiel, ihr nicht einfach meine Meinung in ihr rundes Gesicht zu sagen. Doch ich hielt mich zurück, denn ich wollte einfach nur noch dem blauen Raum entfliehen und mich wieder in meinem Zimmer verkriechen.

Ausgang? Dass ich nicht lache.

Ein letztes Mal zwang ich mich zu einem Lächeln.

»Gut, du siehst ja schon etwas besser aus. Traust du es dir zu, allein auf deine Station zurückzugehen? Ich kann dich gerne noch bis in den Hauptflur begleiten, wenn du möchtest.«

Willenlos stimmte ich ihr zu und trottete ihr in den folgenden Minuten wie ein kleiner Welpe hinterher, der Angst hatte, seine Mutter zu verlieren. Gewissermaßen traf das auch auf mich zu, denn die Größe des Gebäudes überwältigte mich, je mehr ich davon zu sehen bekam. Falls ich je die Flucht wagen sollte, würde ich wohl schon aufgehalten werden, bevor ich überhaupt die Rezeption erreichte.

»So, hier wären wir. Hast du alles, was du brauchst? Sind noch Fragen bei dir offen?« Frau Dallmayer lächelte mich treuherzig an und legte ihren Kopf schräg, was ihre Ähnlichkeit zu einem Dackel noch verstärkte.

»Nein, keine Fragen.«

Absolut keine Fragen.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt