Kapitel 37

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Essen.

Ausgang.

Schlafen.

Essen.

Schule.

Schlafen.

Essen.

Therapie.

Schlafen.

Die nächsten Tage zogen sich dahin wie zähes Kaugummi. Aufgrund meines Zusammenbruchs war es meiner Familie immer noch nicht gestattet, mich am Besuchstag zu treffen, doch das stellte für mich eher eine Erleichterung dar.

Ich wollte sie nicht sehen.

Ich wollte ihre Anschuldigungen nicht hören.

Ich wollte die Blicke nicht ertragen.

Trotzdem traf es mich zu sehen, wie jeder meiner Mitbewohner sich freute, wenn seine Familie oder Freunde eintrafen. Meistens setzten sie sich dann in den Innenhof oder spielten Brettspiele im Gruppenraum; manche durften sogar in Begleitung nach Hause gehen.

Nur ich nicht.

Ich blieb in meinem Zimmer, dessen viele Macken ich mittlerweile schon auswendig kannte; der Rost am Fensterrahmen, die nur schwer zu öffnende Schranktür und die vielen besorgniserregenden Kratzspuren über meinem Bett waren nur eine kleine Auswahl.

Während Sam sich gerade mit einer Freundin im Park herumtrieb, hatte ich das Zimmer für mich allein. Es war mittlerweile ungewohnt für mich, von kompletter Stille umgeben zu sein, denn selbst im Schlaf war Sam lauter als ein Presslufthammer.

Es war, als wäre ich zurück in die Zeit geworfen worden, in der ich in meinem eigenen Zimmer dank heruntergezogener Jalousien in kompletter Dunkelheit ausharrte, bis jemand meine stille Einsamkeit unterbrach. Diese Zeiten hatten meine Seele dermaßen zerfetzt, dass es mir schwerfallen würde, die Teile wieder vom Boden abzukratzen und zusammenzusetzen; selbst wenn ich es wollte.

Doch war das der Fall?

Hatte ich die Kraft dazu?

War ich überhaupt stark genug dafür?

Zweifel stieg wie bittere Galle in mir hoch, doch ich versuchte inständig, ihn zu ignorieren. Was sollte ich schon tun? Immerhin saß ich hier fest und es war keine nahe Entlassung in Sicht. Trotzdem sagte mir mein Gefühl, dass es am besten wäre, mich einfach wieder unter der Bettdecke zu verkriechen und die Tage an mir vorbeiziehen zu lassen.

Aufgeben wäre einfach.

Es würde mich am wenigstens Kraft kosten, einfach den Stecker zu ziehen und mich fallen zu lassen, bis ich irgendwann am Fuße einer Klippe aufschlug und in tausend Teile zersplitterte, die niemand mehr zusammensetzen könnte; erst recht nicht ich selbst. Sich am Felsen festzuklammern und Vertrauen in die eigene Stärke zu setzen; Hoffnung zu haben, es bis zum Gipfel zu schaffen, schien mir in diesem Moment schier unmöglich.

Jetzt wollte ich fallen, einfach fallen.

Bis ich am Ende ankäme.

Die Welt sich schwarz färben würde.

Ich nie wieder in mein Antlitz sehen müsste.

"Hey, Letty; Patricia is' jetzt weg, wollen wir noch was zusammen machen?"

Ruckartig riss ich mein zuvor krampfhaft zusammengekniffenes Augenpaar auf und richtete mich auf; ich schien ziemlich zerstört auszusehen, denn Sam kam sofort auf mich zu, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

"Mensch, was is'n los bei dir? Wieso weinst du und siehst so verdammt beschissen aus?"

Ich weinte?

Erst jetzt bemerkte ich die Flüssigkeit, die von meinem Kinn und meiner Nasenspitze tropfte. Tatsächlich war es mir bis zu diesem Augenblick nicht bewusst gewesen, was mit meinem Körper oder Umfeld geschah. Wo war nur mein Kopf gewesen?

In einer anderen Hemisphäre.

Flints Worte hallten in meinem brummenden Schädel nach wie ein Erdbeben, denn er hatte Recht. Ich fühlte mich wie nach einer unvorbereiteten Marslandung.

"Soll ich 'n Betreuer oder so holen? Meine Fresse, du schaust ja echt verdammt bedröppelt aus der Wäsche-"

"Nein, alles gut."

Ich log sie an und fühlte mich schrecklich dabei, doch momentan war mir einfach nicht nach Reden zumute.

"Sicher?"

Noch immer voller fast mütterlicher Sorge begutachtete mich Sam aus ihren großen, blauen Augen und tastete vorsichtig meine Schläfen ab.

"Ja, es geht schon."

Betrübt wandte sie sich von mir ab und öffnete ihre Schranktür, woraufhin ich erst einmal hastig nach Luft schnappte. Von Angesicht zu Angesicht mit Sam hätte ich es niemals zugegeben, doch auch körperlich fühlte ich mich miserabel und bekam nur schwer, aber wenigstens einigermaßen stabil Luft.

Obwohl ich Sam schon abgeschrieben hatte, drehte sie sich nach kräftigem Herumwühlen in ihrem Schrank zu mir um und trat wieder näher an mich heran, während es schien, als versteckte sie etwas in ihren Handflächen.

"Ähm, also weißt du", sie wirkte auf einmal ziemlich zurückhaltend und unsicher, was ich von ihr noch gar nicht kannte, "ich hab hier was für dich."

Mit diesen Worten zog sie ein kleines, blaues Stoffäffchen aus ihren Händen und überreichte es mir mit roten Wangen. Vollkommen überrascht starrte ich ihr erst einmal für einige Sekunden ins Gesicht, bis ich meinen Blick auf das etwa faustgroße Stofftier senkte. Vorsichtig nahm ich das feingliedrige Geschöpf in meine Hände und betrachtete seine flauschige Oberfläche, die großen Kulleraugen und das niedliche Lächeln.

"Ich hab's in der Kunsttherapie für dich gemacht und dachte mir, dass es dir vielleicht helfen könnte. Vielleicht is' das auch eine total bescheuerte Idee, dann tut's mir Leid, aber manchmal glaub ich, dass Worte allein dir nich' so gut helfen können. Wahrscheinlich brauchst du manchmal auch nur ein paar Augen und Ohren, denen du alles erzählen kannst und weißt, dass es dort sicher aufgehoben is'. Wie gesagt, wenn du's nich' haben willst, kannst du's auch in die Tonne treten. Ich bin keine gute Handwerkerin, wie man unschwer erkennen kann", dabei deutete sie beschämt auf die vielen kleinen Nähfehler, die sich an den Nahten entlangzogen, "aber ich habe mein Bestes getan."

Das hatte sie nur für mich getan?

"Sam?"

Zögernd sah sie mich wieder an und erwartete wohl eine Enttäuschung.

"Ja?"

"Ich finde es toll."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt