Kapitel 67

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"Ich weiß nicht, wie du es schaffst, immer genau das Richtige zu sagen", redete ich mehr zu mir selbst als zu Flint, doch er hob seinen Kopf und hörte mir mit seinem beruhigenden Blick zu, ohne mich zu unterbrechen. "Du schweigst, wenn ich Ruhe brauche, und du machst Witze, wenn ich welche vertrage. So etwas kann ich überhaupt nicht. Falls sich jemand wie ich jemals bei mir ausheulen sollte, könnte ich gar nichts tun außer stumm daneben zu sitzen und hilflos Löcher in die Luft zu starren. In solchen Momenten fühle ich mich, als wäre ich meines gesamten Wortschatzes beraubt worden und stände deshalb dumm da."

Selbst nach einigen Sekunden des Wartens erhielt ich keine Antwort. War Flint etwa eingeschlafen? Oder in Ohnmacht gefallen, ohne dass ich es gemerkt hatte? Doch statt eines gelangweilten Gesichtsausdruck fischte mich Flints sarkastisches Grinsen wieder aus der Leere, in die ich zu fallen gedroht hatte, und gab mir ein wohliges Gefühl.

"Es ist beinahe lustig zu hören, wie sehr du an dir als Gesprächspartnerin zweifelst, obwohl mit dir zu reden mir vermutlich mehr hilft als jede Therapiestunde", entgegnete er und schloss die Augen, um die verbliebenen, durch das lichter werdende Blätterdach hindurchscheinenden Sonnenstrahlen einzufangen.

Das wohlige Gefühl konzentrierte sich in meinem Kopf und ich lehnte mich zurück, während ich unauffällig versuchte, hinter meinen Haaren Schutz zu finden.

"Deswegen musst du nicht rot werden. Um ehrlich zu sein war das nicht mal ein Kompliment, sondern eine Feststellung."

Meine Gliedmaßen lockerten sich wieder ein wenig und meine Atemwege schienen befreiter. Dennoch herrschte in meinem gesamten Körper eine undefinierbare Anspannung.

"Aber eine positive Feststellung."

Flints Lächeln vertiefte sich und seine Augen verwandelten sich in Halbmonde, wobei sich in seiner Augenpartie feine Fältchen bildeten. Zwar war sein Lachen nicht zu hören, doch ich wusste, dass er sich gerade schrecklich amüsierte.

"Ja, das war definitiv eine positive Feststellung, Scar. Wie lange hast du noch Ausgang?"

"Ungefähr zwanzig Minuten", erwiderte ich nach einem prüfenden Blick auf meine zerkratzte Armbanduhr.

Mittlerweile hatte sich das natürliche Licht geändert und wirkte in den sich ankündigenden Abendstunden viel wärmer als zuvor, was die meisten Tiere zu einem letzten Ausflug in die Freiheit zu locken schien. Selbst kleine Wildkaninchen tummelten sich in einem dicht bewachsenen Plätzchen in der Nähe einer Parkbank und mümmelten Kräuter, während sich Amseln und Meisen in der Nähe um Nüsse und Körner stritten. Um uns herum herrschte reges Treiben, doch wir saßen am Fuße unserer Eiche, beobachteten das Naturschauspiel um uns herum und sprachen miteinander.

Mehr brauchte es nicht, um mich abzulenken. Von der Klinik, Sam, Evelyn, meinen Eltern und meinem Bruder Jonathan, den ich seit Monaten nicht mehr gesehen oder gehört hatte. Dachte er überhaupt noch an mich? Falls dem nicht so wäre, könnte ich es ihm nicht einmal verübeln. Immerhin hatten sich meine Gedanken in den vergangenen Monaten auch nicht sonderlich oft um ihn gekreist. Hatte er bereits seinen Schulabschluss absolviert? Oder war ihm seine chronische Faulheit dazwischengekommen?

Neben mir atmete Flint tief ein und schloss erneut genüsslich seine Augen, um der Natur um uns zu lauschen. Er wirkte so friedlich und zufrieden, dass ich ihn nicht stören wollte, doch eine Frage brannte mir auf der Zunge.

"Hast du Geschwister?"

Augenblicklich versteifte sich sein Körper und ich bereute meine Frage. Warum hatte ich nicht einfach still sein können und ihn seine Auszeit genießen lassen? Langsam öffnete er seine Augen und erwiderte meinen entschuldigenden Blick möglichst neutral, doch ich merkte, wie verändert er sich auf einmal verhielt.

"Das weiß ich nicht."

Er wusste nicht, ob er Geschwister hatte? Lag seine kurze Antwort vielleicht daran, dass ich ihn nervte?

"Entschuldige, ich wollte ni-"

"Du sollst dich nicht andauernd entschuldigen, Scar. Es ist in Ordnung, wenn du Fragen hast. Ich habe einfach keine Ahnung, ob ich Geschwister habe oder nicht. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, wo meine leibliche Mutter sich momentan aufhält. Sie ist mal hier, mal dort auf ihren Drogentrips mit monatlich wechselnden Freunden", murmelte er fast beschämt.

Nach seinem Vater wollte ich gar nicht erst fragen, doch er kam mir zuvor, nachdem er meinen fragenden Gesichtsausdruck gelesen hatte.

"Mein Vater hat meine Mutter nur benutzt, um Geld und staatliche Papiere zu bekommen. Als er herausgefunden hat, dass sie schwanger war, ist er ganz schnell abgehauen, der Sack."

Sprachlos beobachtete ich sein Gesicht auf ein Zeichen des Missfallens mir gegenüber, doch all seine Wut schien in diesem Moment seinen leiblichen Eltern zu gelten. Das verwunderte mich nicht, denn immerhin hatte er eine Hälfte, seinen Vater, nie kennengelernt. Wie das wohl als Kind für ihn gewesen war? Andere Kinder beim Spielen mit ihren Vätern zu sehen, während man selbst niemanden hatte. Die Mütter der Freunde zu betrachten und sich zu wünschen, die eigene Mutter wäre nur ansatzweise so liebevoll und aufmerksam.

So etwas kannte ich aus meiner Kindheit nur in abgewandelten Zügen. Mein Vater hatte uns zwar nicht verlassen, doch er hielt sich beinahe ausnahmslos in seiner Firma auf, weshalb ich ihn niemals wirklich kennengelernt hatte. Meine Mutter hingegen war schon immer da gewesen, doch nicht auf die Art, wie man es sich als Kind wünschte. Statt Umarmungen und Küssen gab es Schuldzuweisungen und Diskussionen, die letztendlich ins Nichts führten und unsere Familie nur noch weiter auseinandertrieben.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt