Kapitel 51

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"Ist schon in Ordnung, sag einfach nichts", murmele ich möglichst beruhigend, während mein Herz drohte, meinen Brustkorb zu zersprengen.

Nachdem ich den Erste-Hilfe-Kasten wieder eingeräumt und die nahe Umgebung so gut es ging von Körperflüssigkeiten und dem penetranten Gallegeruch befreit hatte, ließ ich mich erneut im Schneidersitz neben meiner Leidensgenossin nieder und beobachtete sie abwartend, um ihre aktuelle Situation abschätzen zu können. Ein leises Piepsen machte sich nach einiger Zeit auf meinem rechten Ohr bemerkbar und trieb mich schlussendlich beinahe in den Wahnsinn.

"Scarlett?"

Ihre blassen Lippen bewegten sich kaum, während sie meinen Namen aussprach, und ihre Augen fixierten etwas mir Unbekanntes in weiter Ferne. Ich wusste genau, wie sie sich in diesem Moment fühlen musste.

Gleichgültig.

Ausgesaugt.

Leer.

Damals hatte ich nichts mehr fühlen können, denn in dem Moment, als die Klinge meine Haut berührt und somit mein Schicksal besiegelt hatte, waren bereits alle Gedanken, Erinnerungen, Gefühle und Hoffnungen aus mir gesickert wie das Blut aus meinen Venen. Je schwächer ich mit der Zeit geworden war, desto weniger musste ich über mich oder die Zukunft nach meinen Ableben nachdenken. Es war mir vollkommen egal gewesen und nach einigen Sekunden, in denen sich das warme Blut seinen Weg über meine Unterarme bis in den Grund der Badewanne gesucht hatte, betrachtete ich meine damalige Umwelt mit beinahe desinteressiertem inneren Auge. Endlich hätte ich frei sein können und nicht mehr atmen müssen; würde für immer in der Leere schweben und nie wieder etwas fühlen müssen. Doch so war es damals nicht gekommen. Ich hatte versagt.

"Ja, Evelyn?", entgegnete ich mit zitternder Stimme und knete mit meiner linken Hand meine Finger, um der Kälte, die sich in meinem gesamten Körper ausgebreitet hatte, wenigstens ein wenig entgegenzuwirken.

"Danke. Für alles."

Kaum konnte ich ihre Worte richtig verarbeiten, da sammelten sich bereits stumme Tränen in meinen Augen und kullerten schlussendlich meine Wangen entlang, bis ich endlich neben ihr zu weinen begann und vollkommen losließ.

Wieso dankte sie mir? Ich verdiente ihre Dankbarkeit gar nicht; immerhin war ich vor wenigen Wochen genau wie sie gewesen. Ich hatte an genau dem gleichen Punkt gestanden, an dem es nur zwei Optionen gab; Leben oder Tod.

Sie hatte das Leben gewählt und nur bluten wollen.

Ich hatte den Tod gewollt. Den endgültigen und erbarmungslosen Tod.

Doch dieser Plan war durchkreuzt und mein elendiges Dasein somit auf unabsehbare Zeit verlängert worden. Ich verdiente das Leben nicht, doch es verfolgte mich immer weiter auf meinem Pfad, der mich mit jedem Tag tiefer in einen Tornado aus Gefühlen drängte. Aus Gefühlen, die mir mit der Zeit entglitten und sich gegen mich wandten.

"Danke. Für alles."

Wieso dankte sie mir für alles?

Bedankte sie sich für all die Wochen, in denen ich mich vor ihr und den restlichen Patienten verschlossen hatte?

Bedankte sie sich für meine mentale Schwäche, die ich jeden einzelnen Tag nur mühsam verdecken konnte?

Bedankte sie sich für das Schweigen, das ich ihr anfangs auf ihre interessierten Fragen immer wieder ins Gesicht geschleudert hatte?

"Was ist denn los, Scarlett?", ertönte nun über mir Evelyns wacklige Stimme.

Lag ich auf dem Boden? Hastig öffnete ich meine Augen, die von Tränenflüssigkeit verklebt worden waren, und wischte mir beschämt die Spucke aus dem Gesicht. Es ging hier nicht um mich; immerhin war Evelyn diejenige, die vor wenigen Minuten beinahe alleine im muffigen Badezimmer einer psychiatrischen Klinik verendet wäre. Wieso also brach ich vor ihr zusammen und zeigt ihr ein Paradebeispiel von Schwäche?

"Mir geht es gut, keine Sorge. Das ist nur alles sehr ungewohnt für mich", log ich qualvoll lächelnd und strich ihr mit meiner blassblauen Hand vorsichtig über die Schulter, um sie wieder zu beruhigen.

"Tut mir Leid, dass du das hier alles sehen musstest. Ich weiß nicht, was ohne dich passiert wäre. Danke", auf einmal begann sie krampfhaft zu husten und bekam sich durch ihren schwachen Körper nur schwer wieder unter Kontrolle, "einfach vielen Dank. Ich weiß nicht, was ich sagen soll."

"Du sollst dich nicht bedanken. Irgendwie sollte das wohl eher umgekehrt sein", entgegne ich und fühle langsam die Lebensenergie zurück in meinen Körper fließen.

"Wieso?", meint mein Gegenüber daraufhin und legt interessiert ihren Kopf zur Seite, wobei sie penibel darauf achtet, ihre Arme, die immer noch leblos an ihrem Körper herabhingen, nicht zu belasten.

"Ich bin ehrlich gesagt schon seit Jahren nicht mehr so schnell gerannt", erwiderte ich trocken und sehe freudig, wie sich Evelyns Mundwinkel langsam zu einem breiten Lächeln formen.

In diesem Moment musste nichts mehr gesagt werden. Sie verstand meine Versuche, sie aufzuheitern, denn wir beide hatten vermutlich ähnliches durchstehen müssen. Eine kaputte Familienbeziehung, ein gewaltvoller Freund oder soziale Abgrenzung; was auch immer es in ihrem Fall war, ich fragte nicht nach.

Wir kannten uns nicht.

Doch wir verstanden uns ohne Worte.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt