Kapitel 15

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Diese Nacht verbrachte ich durchgehend wach, nervös auf meinem Bett sitzend und darauf hoffend, dass die Sonne doch niemals aufgehen möge.

Ich hatte Angst.

Angst, meine Familie wiederzusehen und mit ihnen zu reden.

Angst, meiner Mutter ins Gesicht blicken zu müssen und an all die schrecklichen Dinge zu denken, die sie mir bereits ins Gesicht geschrien hatte.

Angst ... vor mir.

Wie werde ich mich verhalten? Was, wenn ein Streit beginnt und ich meine zuvor unterdrückte Meinung einfach nicht mehr zurückhalten kann?

Die Tatsache, dass ich mein eigenes Verhalten in einer ungewohnten Situation wie dieser nicht vorhersehen konnte, bereitete mir unglaubliche Furcht.

Ich wollte nicht schlafen, da ich befürchtete, dass mich das Mädchen wieder in meinen Träumen besuchen würde. Würde es ablaufen wie zuvor? Allein der Gedanke an ihre zierliche und auf mich doch so furchteinflößend wirkende Gestalt ließ einen Schauer über mein Rückgrat fahren, sodass ich vor Kälte zitterte.

Die Decken hier in der Klinik waren sehr dünn und ich fror mich fast auf die Knochen ab. Immer wieder strich ich über den harten und kratzigen Stoff, den ich sauber gefaltet über meinen Schoß gelegt hatte. Das Geräusch des ungewöhnlichen Materials beruhigte mich auf gewisse Weise und ich verfiel wie so oft in Trance.

Diese Müdigkeit, die ich empfand, konnte nicht nur vom Schlafentzug kommen. Da war etwas anderes, das sich wie ein Blutegel an mir festgesaugt hatte und mir gewaltsam all meine Kraft und Energie entzog. Alles, was danach noch von mir übrig blieb, war eine leere Hülle, die sich leicht, unbeholfen und ohne jegliche Widerstandskraft durchs Leben treiben ließ.

Langsam bewegte ich mein rechtes Bein und legte es schräg über mein linkes. Voller Lustlosigkeit sah ich mich zum wiederholten Mal in dieser Nacht in meinem Zimmer um und betrachtete meine Umgebung.

Wie gerne ich doch jetzt irgendwo anders wäre. Weit entfernt von diesem Ort, an dem ich festgehalten wurde und mich als Forschungskaninchen fühlte.

Mir kann man nicht mehr helfen. Niemand kann das. Diese Therapie war nur dazu da, um das Gewissen meiner Eltern zu beruhigen, damit sie sich nach meinem Selbstmord keine Vorwürfe machen müssen und sich einreden können, dass sie alles Menschenmögliche getan hätten.

Doch als Mensch standen sie mir nie zur Seite. Ich war seit meinem elften Lebensjahr für sie die Kranke und Schwächliche gewesen, die man lieber vor der Gesellschaft versteckte als offen mit der Situation umzugehen und sich rechtzeitig Hilfe zu holen.

Doch diese Möglichkeit war nun schon lange verstrichen. Mein Leben war bereits vorbei, auch wenn mein Herz noch schlug.

Es war gefährlich für mich, nachts allein mit meinen Gedanken zu sein, doch genau das war nun eingetreten. So war es auch in jener ereignisreichen Donnerstagnacht, in der ich mir diese zwei bedeutenden Narben zufügte, die mich mein restliches Leben lang begleiten würden. Niemals verschwänden sie wieder. Niemals.

Ich hatte in der Badewanne gelegen, doch es lief kein Wasser. Stunden verbrachte ich dort, ohne die Zeit tatsächlich wahrzunehmen. Das Badezimmer war gerade erst frisch renoviert worden und an manchen Stellen auch noch unvollendet, sodass direkt über mir ein rostiger alter Nagel lose in der Wand hing. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von seiner leicht verkrümmten und rostroten Spitze nehmen und streckte schließlich meine knochige, weiße Hand aus, um die Spitze meines Zeigefingers daran aufzukratzen. Erst tat es weh und ich wollte meine Hand schon wieder zurückziehen, um damit die gesamte Idee, die mir in diesem Moment durch den Kopf schoss, zu begraben, doch ich riss mich zusammen und drückte mit all meinem aufzubringendem Gewicht dagegen, bis eine feine Spur aus krankem, orangerotem Blut langsam meinen Arm hinunterlief. Vorsichtig begann ich, meinen Finger umherzubewegen, und bemerkte dabei, dass der Nagel locker in der Wand hing. Daraufhin umgriff ich ihn und zog den gesamten Nagel bedächtig aus seiner Verankerung.

Soll ich es wirklich tun?

Diese Frage war mir damals immer wieder durch den Kopf geschossen, während ich den Nagel langsam in meiner Hand herumdrehte und ihn begutachtete. Das Blut aus meinem Finger verebbte langsam und ich spürte leichte Unzufriedenheit über diese Tatsache in mir hochsteigen. Schon jetzt vermisste ich das sanfte Gefühl des warmen Blutes, das sich seinen Weg auf meiner Haut bahnte und aus meinem Körper wich.

Das nahm mir die Entscheidung ab und ich tat es einfach.

Erst im Krankenhaus war ich wieder zu Bewusstsein gekommen. Alles war weiß oder blau gewesen und mich hatte das regelmäßige Piepen der Geräte begleitet, an denen ich angeschlossen gewesen war.

Ich war wütend, traurig und enttäuscht gewesen.

Ich hatte versagt.

Ich konnte nicht einmal Selbstmord begehen.

Ich war allein.

Ich war ein undankbares und unwürdiges Stückchen Scheisse.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt