Kapitel 42

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"Ich glaube, für heute ist es erst einmal genug."

Durch einen dämpfenden Schleier aus purem Schock hörte ich Frau Hendel, die nun endlich den Zeitpunkt gekommen sah, sich einzuschalten.

Merkst du nicht, wie du unsere Familie auseinanderreißt?

Immer wieder und wieder spielte sich dieser Satz in meinem Kopf ab, wie eine kaputtgegangene Schallplatte, die wiederholt dasselbe Lied abspielte.

Ich zerbrach meine Familie? Hatte mein Vater Recht mit dem, was er mir an den Kopf geworfen hatte?

"Scarlett, möchtest du dich noch von deinen Eltern verabschieden, bevor du wieder zurück auf deine Station gehst?"

Nein.

Langsam schüttelte ich den Kopf, während ich mich von meinem Stuhl erhob und ohne ein weiteres Wort der Tür zuwandte. Eine Verabschiedung würde sich falsch anfühlen, denn begrüßt hatte ich sie schließlich auch nicht. Mit zitternden Händen umfasste ich die Türklinke, während meine Eingeweide nach und nach auftauten und ich allmählich wieder etwas fühlte. Bevor ich jedoch vor meinen Eltern von diesen zuvor versteckten Emotionen überrannt wurde, brach ich doch lieber im Flur zusammen.

Das Klacken des Türschlosses war das letzte, was ich wahrnahm, ehe ich die Flure entlanglief. Der Mangel an Ausdauer und Kraft war egal, denn ich flog getrieben vom Adrenalin durch das Klinikgebäude, bis ich endlich an einen Nebenausgang gelangte. Erst jetzt bemerkte ich meine Kurzatmigkeit, doch auch das hielt mich nicht auf; ächzend lehnte ich mich gegen die schwere Tür, bis ich endlich frische Luft einatmen konnte. Meine Knie gaben zwar nach, sodass ich letztendlich im Blumenbeet voller Lavendelpflanzen lag, doch darum kümmerte ich mich nicht. Alles was zählte, war die Geruchsmischung aus ebendiesem Strauch und der frischen Brise, die mich hier draußen sanft umwehte. Ich verlor jedes Zeitgefühl, während ich schlichtweg dort liegenblieb; die Augen geschlossen und jedes Geräusch in mich aufsaugend.

Um mich herum zirpten die letzten verbliebenen Grillen auf Partnersuche und neben mir summten einige eifrig arbeitenden Insekten in Hortensienbüschen, die überall auf dem Klinikgelände verteilt angebaut worden waren, um etwas Farbe in den tristen Alltag der Patienten zu bringen-

"Hey, was machst du denn hier, Scarlett?"

Diese Stimme kam mir nur zu bekannt vor und meine bangende Ahnung wurde bestätigt, als ich meine Augen öffnete und nach einigen verzweifelten Versuchen, gegen die Sonne zu starren, mein Gegenüber erkannte.

"Herr Olsen, ich-", wollte ich schon zu einer Entschuldigung ansetzen, doch mein Betreuer unterbrach mich.

"Pscht, sag nichts. Ich glaube, ich kann es mir denken."

Mit diesen Worten setzte er sich mir gegenüber im Schneidersitz auf den gepflasterten Weg und verblüffte mich damit umso mehr. Er konnte sich was denken? Sollte er mich nicht ausschimpfen und irgendein Verbot ausschreiben, damit ich so etwas nie wieder tat? Immerhin war es verboten, sich außerhalb des protokollierten Ausgangs draußen aufzuhalten. Mein fragender Gesichtsausdruck amüsierte ihn jedoch nur und er kicherte albern in sich hinein, da ich wohl wie ein verlorenes Reh aussah. Kein Wunder; immerhin hatte ich mich Sekunden zuvor in einer anderen Welt befunden. Kurz darauf wurde er allerdings wieder ernst und lehnte sich vorsichtig nach hinten, um sich an eines der Rankengitter anzulehnen, die an der Backsteinfassade des Klinikgebäudes aufgestellt worden waren.

"Du hast deine Eltern gerade das erste Mal seit der Aufnahme wieder gesehen, nicht wahr?"

Ich nickte bloß stumm und wartete immer noch misstrauisch auf eine Art Verhaltenswechsel, doch er blieb weiterhin ruhig und gelassen.

"Weißt du, das erste Mal ist sehr oft schwierig für Jugendliche hier in der Klinik", fing er mit ernster Miene an, schien dann aber seine Worte in Gedanken zu rekapitulieren und musste sich sogleich selbst unterbrechen. "Sorry, das klang gerade irgendwie zweideutig."

Wieder gluckste er in sich hinein und brachte mich damit zwangsläufig zum Lächeln. Schon seit dem Avocado-Sandwich, das Herr Olsen mir damals in der Stationsküche meisterhaft zubereitet hatte, war er mir sympathisch gewesen; ganz anders als Frau Foxworth oder Herr Perkins, die mich beinahe durchgehend kritisierten. Auch in der Gruppentherapie, die bisher jeden Dienstag stattgefunden hatte, war er am freundlichsten und tolerantesten im Bezug auf kleinere Fehler, die andere Betreuer schon längst vor allen anderen angeprangert hätten.

"Also, jetzt mal im Ernst; ich habe mir irgendwie schon gedacht, dass das bei dir und deinen Eltern schwierig werden könnte. Eigentlich hättet ihr euch ja schon in deiner ersten Aufenthaltswoche wiedersehen sollen, aber dann mussten wir mit dem Ganzen ja noch etwas warten."

Bei dem Gedanken an meinen Zusammenbruch bekam ich das Gefühl, als würde mein Rückgrat zu Staub zerfallen und mich langsam zusammensinken lassen.

"Hey, schäm dich nicht dafür. Dir ging es anfangs dermaßen schlecht, dass ich dir zu deinen bisherigen Fortschritten nur gratulieren kann, Scarlett. Mach dir nur nicht selbst andauernd solchen Stress, das setzt dich nur weiter unter Druck, verstehst du? Geh die Therapie mit offenen Armen, Augen und Ohren an, dann kannst du auch an dir arbeiten. Denn, soll ich dir was sagen?", bei diesen Worten lehnte er sich verschwörerisch näher, als verriete er mir ein Staatsgeheimnis. "Nur du kannst dir helfen. Nicht die Therapeuten, nicht deine Eltern, nicht deine Mitpatienten. Du bist für dein Schicksal verantwortlich und bestimmst darüber. Offiziell dürfte ich dir so etwas gar nicht erst sagen – Klinikvorschriften und so –, aber irgendwie habe ich das Gefühl, du kommst mit Frau Hendel nicht so gut zurecht. Stimmt das oder täusche ich mich?"

Konnte er meine Gedanken lesen? Schüchtern nickte ich.

"Sagen Sie es ihr bitte nicht."

Das brachte ihn zum erheiterten Schnaufen und er klatschte belustigt in die Hände, während sich seine Augen durch sein breites Lachen zu kleinen Halbmonden formten.

"In der Hinsicht musst du dir keine Sorgen machen. Ich kann das emotionslose Metallgestell doch selber nicht leiden!"

Nun lachten wir alle beide.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt