Kapitel 70

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Eine warme Wolke an beheizter Luft empfing mich im Gruppenraum, als ich die Station betrat. Neben der scheinbaren Hitze wurden die zuvor gedeckten Naturfarben wie Grün, Grau und Braun nun von grellem Orange, Rot und Türkis abgelöst. Auch die Gerüche erschlugen mich regelrecht, denn während draußen der ergreifende Duft des Regens vorherrschte, mischten sich auf der Station verschiedenste Gerüche wie Stressschweiß, Essensreste und Fischfutter zu einem einzigen, ekelerregenden Gestank zusammen, der mich für einige Sekunden vollständig lahmlegte. Um mich aufgrund dieser Reizüberflutung nicht übergeben zu müssen, versuchte ich, ruhig zu atmen, die Augen zu schließen und abzuwarten, bis der Brechreiz vorüberging, doch Frau Foxworth hatte andere Pläne.

"Wie siehst du denn aus? Meine Güte, du hättest doch schon früher kommen können, als das Gewitter noch nicht angefangen hatte!", rief sie entsetzt und kam auf mich zu, umging mich jedoch, um zuvor noch einige Handtücher zu holen.

Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung und ließ sie einfach tun, was sie anscheinend unbedingt tun musste. Erst warf die kleine Betreuerin mir einige Handtücher zu, die ich nur mit größter Mühe in allerletzter Sekunde auffing; dann begann sie, mich gründlich von Kopf bis Fuß zu betrachten und immer wieder unterschwellige Kommentare von sich zu geben, da sie dachte, ich würde sie nicht hören. Innerlich wurde ich immer unruhiger und nervöser.

Ruhig bleiben.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Stumm vollführte ich meine Atemübungen, ohne dass Frau Foxworth es mitbekam, und konnte schließlich wieder einigermaßen normal durchatmen. Doch sobald ich meine Schuhe ausgezogen und meine Kleidung als auch Haare dank der vielen Handtücher einigermaßen abgetrocknet und ausgewrungen hatte, wurde ich von Frau Foxworth in mein Zimmer gezerrt, das irgendwie anders auf mich wirkte. Die Vorhänge waren aufgezogen worden, wodurch ich einen wunderbaren Ausblick auf den Regenguss hatte, der sich vor den Fenstern ereignete.

In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als nach draußen rennen und mich im Regen langsam um meine eigene Achse drehen zu können, bis ich wieder vollkommen durchnässt und eins mit meinem Umfeld war. Nasse Blumen, nasse Häuser, nasses Ich. Doch stattdessen war ich gezwungen, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, in dem ich eben nicht draußen im Regen stand, sondern mich mit Frau Foxworth im Zimmer einer psychiatrischen Klinik befand und misstrauisch von meiner Betreuerin begutachtet wurde.

"Du gehst jetzt bitte augenblicklich duschen, ja? Ich möchte nicht, dass du hier alles volltropfst mit deinen nassen Klamotten", murrte sie und drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um, woraufhin sie wenige Sekunden später meine Zimmertür hinter sich zuknallen und mich somit zusammenzucken ließ.

Die Realität begrüßte mich sogleich von ihrer hässlichsten Seite.

Mühevoll zog ich mir die Kleider vom Leib und hing sie zum Trocknen über meinen Schreibtischstuhl, welcher allerdings bei Weitem nicht ausreichte. Doch statt Sams ehemaligen Stuhl hinzuzuziehen, legte ich die restliche Kleidung auf meinen Schreibtisch.

Es war noch zu früh, um all ihre Spuren und ihr ehemaliges Eigentum einfach zu überschreiben.

Einige Minuten später fand ich mich in dem ewig kalten Duschraum wieder, der mir immer wieder aufs Neue Beklemmungen bereitete. Weiße Wände, weißer Boden, weiße Waschbecken. Alles war so hell und schrie mich an, sodass ich mich nach einigen Sekunden der Reglosigkeit vollkommen erschöpft an eine Wand lehnte. Es war beinahe, als hätte sich in mir ein Schalter umgelegt; von der Unbeschwertheit bis zur endgültigen Erschöpfung.

Nur mit einem Handtuch bekleidet näherte ich mich der Dusche, die in den vergangenen Wochen keinesfalls ansehnlicher geworden war. Der Schimmel in den Ecken schien nur noch offensichtlicher, je näher ich trat, doch ich schluckte den Ekel hinunter und ließ das Handtuch von meinem Körper gleiten, bevor ich es an einen nahegelegenen Haken hängte und meine Aufmerksamkeit den Spiegeln über den Waschbecken widmete. Meine Schulterblätter und mein Rückgrat stachen deutlich hervor, als ich mich in meiner alltäglichen, eher gebeugten Haltung befand, doch sobald ich mich nur ein klein wenig mehr aufrichtete, wirkte mein Körper schon weniger knochig und deutlich erträglicher, wenn man von den tiefen Narben absah, die jeweils meine Unterarme verunstalteten. Bewusst drehte ich meine Arme so, dass ich sie nicht sehen konnte, und trat etwas näher an einen der Spiegel heran.

Mein Gesicht wirkte ungewohnt, beinahe entspannt, als ich meinen eigenen Blick erwiderte, der früher eine dermaßen große Abscheu in mir erregt hat, dass ich selbst überrascht von mir war. Die sonst so tiefen Falten auf meiner Stirn als auch um meinen Mund hatten sich geebnet und meine Haut schien gleichmäßiger als sonst. Auch meine Augenpartie hatte sich deutlich verändert; wo sonst tiefe Schatten prangten, stachen nun zwei graue, offene Augen hervor und schienen selbst in dem gelblichen Licht der Lampen über mir zu funkeln, obwohl sie sonst nur von meinen Tränen schimmerten oder meine Depressionen sie ermatten ließen. Es war ungewohnt, mich so zu sehen, und ich wollte mich nicht an den Anblick gewöhnen, da ein neues Tief vermutlich nur darauf wartete, mich erneut in seine Abgründe zu ziehen, doch in diesem Augenblick akzeptierte ich mich, auch wenn der klare Ausdruck in meinen Augen eine Lüge war.

Denn ich fühlte mich nicht mehr klar. Nicht mehr, seit ich wieder einen Fuß in die Klinik gesetzt hatte und von Frau Foxworth unter ihre Fittiche genommen wurde. Meine Freiheit war mir erneut gestohlen worden, doch ich würde sie mir zurückholen.

Morgen Nachmittag.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt