Kapitel 47

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"Na, du Schlafnase. Haste nich' gehört? Wir sollen aufstehen."

Mit einem unsanften Rütteln an meinen Schultern riss mich Sam aus meinem sowieso unruhigen Schlaf, der mich die gesamte Nacht über gequält hatte.

"Hey, jetzt murr nich' so rum. Hopp, hopp, komm in die Puschen, du alte Lady."

Ich wusste nicht, was genau mir in diesem Moment fehlte, doch ich konnte und wollte mich einfach nicht rühren. Mühsam bewegte ich meine Finger, die ich geballt unter dem Kopfkissen verschränkt hatte, auseinander und streckte sie vorsichtig, bevor ich kräftig einatmete, um genug Kraft für den mir bevorstehenden Tag zu sammeln.

"Komm schon, Frau Foxworth hat heute Dienst. Ich hab' keinen Bock, mich der doofen Miesepetra allein zu stellen."

"Miesepetra?", knurrte ich in sarkastischem Ton und mit dramatisch hochgezogenen Augenbrauen, die Sam jedoch nicht sehen konnte, da ich mein Gesicht ins Kopfkissen gedrückt hatte, was mir jedoch langsam die Atemzufuhr abklemmte.

Ein lautes, freudiges Jauchzen ließ mich zusammenzucken und Sams Hände rüttelten wieder in einem weiteren Versuch, mich endgültig wachzubekommen, an mir.

"Na, geht doch. Die gute alte Letty ist wieder da, sich auf meine Kosten lustig machend wie eh und je."

Mit schweren Gliedern und brummendem Schädel richtete ich mich langsam aus meinem Bett auf, bis ich mit dem Gesicht nur noch Millimeter von der mittlerweile fast komplett abgeblätterten Tapete entfernt war.

"Wenn du dich jetzt noch zu mir umdrehst, haben wir's fast geschafft", neckte mich meine Mitbewohnerin spielerisch, wobei ihr Gesicht sicherlich von einem siegessicheren Grinsen geziert wurde. "Hast du gehört? Foxworth hat schon wieder gerufen, die kommt sicherlich bald hier reingeplatzt. Soll ich dir noch deine Kleidung rauslegen oder dir gleich den Arsch abwischen?"

Schon war es passiert; ich lachte. Und Sam lachte mit mir.

"Gut", meine ich immer noch etwas abwesend, "ich stehe ja schon auf."

Daraufhin ließ Sam endlich von mir ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihre skurrile Morgenfrisur, die von abstehenden Haaren in alle Himmelsrichtungen gekrönt wurde. Während sie an ihrem Schreibtisch saß und geschäftig ihre Haare bürstete, lenkten sich meine Gedanken wieder auf unser gestriges Gespräch. Sollte ich sie jetzt noch einmal darauf ansprechen? Vielleicht erst heute Nachmittag? Oder heute Abend?

Ich traute mich einfach nicht, da ich ahnte, wie empfindlich Sam darauf reagieren würde. Allein die Tatsache, dass sie gestern bereits von sich aus den Kontakt zu mir gesucht hatte, um über ein Thema zu reden, dem wir normalerweise fernblieben, bereitete mir eine Angst, die Kälteschauer über mein Rückgrat sendete. Wenn jemand wie Sam, die eigene Sorgen immer runterschluckte und sich lieber um das Wohlergehen anderer kümmerte, Hilfe bei mir suchte, indem sie tatsächlich über ihr Leiden sprach, musste es ihr schrecklich gehen. Erneut richtete ich meinen Blick auf sie, die mittlerweile vollkommen frustriert mit einer Dose Haargel hantierte und versuchte, ihre losen Strähnchen damit zu festigen, es jedoch nur noch schlimmer machte. Automatisch stahl sich ein sanftes Lächeln auf meine Lippen, denn Sam war wie die Schwester, die ich nie gehabt hatte.

Die lustige Schwester.

Die nervige Schwester.

Die tröstende Schwester.

Die aufgedrehte Schwester.

Was würde mich nach meinem Klinikaufenthalt erwarten? Würde ich dieses Gelände überhaupt jemals wieder lebendig verlassen? Könnten wir unsere Freundschaft erhalten oder würden wir uns durch die wohnliche Distanz auch emotional immer weiter voneinander entfernen, bis wir nur noch Fremde füreinander darstellten?

"Kommst du?"

Auffordernd lächelte Sam mir zu und warf sich gegen die Tür, die in den vergangenen Tagen immer wieder geklemmt hatte. Durch ihre Wucht sprang diese jedoch auf der Stelle auf und gab mir den Blick auf die restliche Gruppe frei, die sich bereits um den großen Tisch versammelt hatte und teilweise noch mit verschlafenen und leeren Blicken durch den Raum starrte. Während meine Begleiterin energetisch und selbstsicher einen Fuß vor den anderen setzte, hielt ich mich lieber in der Nähe einer schutzspendenden Wand auf, um mich schnell in Sicherheit bringen zu können, falls etwas Unerwartetes passierte.

In all der Zeit, die ich bereits in der Klinik verbrachte, hatte ich mich nie sonderlich mit einem anderen Mitglied der Stationsgruppe anfreunden können. Abgesehen von der Gruppentherapie und gelegentlichen Wortwechseln beim Erledigen der Stationsdienste oder ähnlichem war ich ihnen nie nähergekommen. Für mich persönlich stellte das zwar kein Problem dar, doch in Momenten wie diesen, in denen alle Augen auf mich gerichtet waren, wünschte ich mir doch innerlich, dass ich etwas besser mit meinen Mitpatienten vertraut wäre.

Besonders Fay und Evelyn schienen an sich harmlos und aufgeschlossen mir gegenüber, doch ich konnte mich nie überwinden, den ersten Schritt zu machen und sie anzusprechen. Dann gab es da noch Rose, die zwar aufgrund ihres dunklen Auftretens erst einmal abschreckend auf mich gewirkt hatte, an sich aber wahrscheinlich recht in Ordnung war. Die neue, erst kürzlich eingetroffene Mitbewohnerin trug den Namen Caroline, doch mit ihr hatte ich keinen besonderen Kontakt, was unter Anderem auch daran lag, dass sie sich beinahe durchgehend hinter ihrer roten Mähne versteckte. Arthur kannte ich tatsächlich etwas besser, da wir gemeinsam einen Mathekurs besuchten, doch mit Ozzy, der durch sein Verhalten immer wieder bei seinen Mitbewohnern und Betreuern aneckte, kam ich überhaupt nicht zurecht, da er zu laut und ungestüm mit seinen Mitmenschen umging. Erst vorgestern war ich von ihm umgerannt worden, da ich ihm seinen Worten nach im Weg gestanden hatte. Noch immer zierte ein blaugrüner Fleck als Erinnerung an dieses Aufeinandertreffen meinen Rippenbogen, in den er seinen Ellenbogen gerammt hatte.

Doch abgesehen von diesem Ausfall schien die Gruppe gar nicht mal so schrecklich zu sein. In Überlegungen versunken setzte ich mich an meinen Sitzplatz und wartete darauf, den Tischspruch, der den Beginn des Frühstücks markieren würde, zu hören, während ich hin und her gerissen überlegte, ob ich es wagen sollte, mich auch einmal mit anderen Jugendlichen als Sam und Flint zu umgeben.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt