Kapitel 87

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Der cremeweiße Metallstuhl quietschte unangenehm auf dem Boden, als ich mich auf ihm niederließ und an den Tisch heranrückte, doch vor Nervosität fühlten sich meine Ohren und Hände so taub an, dass ich es kaum hörte. Der Junge lächelte mich jedoch nur entspannt an und hielt mir einen Bleistift entgegen.

"Zeichnest du gerne?"

Sein Gesicht war übersäht mit blassen Sommersprossen, die sich besonders auf seinen Wangen häuften, und er hatte hellgraue Augen, die mich aufmerksam beobachten. Es war ungewöhnlich für mich, jemandem mit ähnlicher Augenfarbe zu begegnen, auch wenn seine mehr ins Bläuliche gingen, aber auf eine merkwürdige Art und Weise fühlte ich mich ihm durch diese Ähnlichkeit auf Anhieb verbunden. Für einen Rotschopf hatte er dunkle Augenbrauen, von denen die linke mit den Augenblicken, die verstrichen, immer weiter nach oben wanderte und seinem Gesicht einen fragenden Ausdruck verliehen. Hatte ich etwas vergessen?

"Ach so, ähm ... ich weiß nicht. Wahrscheinlich blamiere ich mich gleich, gezeichnet habe ich schon lange nicht mehr", erwiderte ich hastig und verschluckte mich dabei an Luft. Während ich unauffällig versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken, nahm ich den Bleistift dankend an und zog ein Papier aus dem Stapel, der vor uns auf dem Tisch lag. "Du schon?"

Ein Blick in Richtung des Betreuerbüros verriet mir, dass Tommy sich bemühte, uns nicht zu beobachten, aber immer wieder hinüberschielte. Es schien, als würde er sichergehen wollen, dass es mir gut ging. Unwillkürlich musste ich darüber lächeln und begann, vorsichtige Striche auf dem Papier zu zeichnen.

"Wenn dir der Stift zu weich ist, habe ich auch noch andere Stärken", begann mein Sitznachbar und holte tief Luft, "aber ich persönlich zeichne ganz gerne mit HB." Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, nickte aber verständnisvoll. "Und zu deiner Frage: Ja, für mich ist es fast schon meditativ. Zum Glück durfte ich meine eigenen Stifte mitnehmen, denn das, was man hier bekommt, ist die reine Katastrophe, glaub mir. Ach und übrigens", unterbrach er seine Entrüstung und streckte mir seine Hand entgegen. "Alvin, sehr erfreut."

Alvins Lächelns war einnehmend, dessen war er sich offenbar bewusst. Dennoch schaffte er es, dass ich ihn sympathisch fand. Die Tatsache, dass wir uns in der Notfallstation einer psychiatrischen Klinik befanden, schien ihn nicht zu stören. Stattdessen bewegte und verhielt er sich, als träfen wir uns bei einem Grillfest. Zu meiner Überraschung störte mich seine Entspanntheit nicht. Immerhin gab es schon genügend Menschen, die mich behandelten, als wäre ich auf dem Weg zum Schafott. Viel eher tat es gut, mit jemandem zu reden, der meine Hintergrundgeschichte nicht kannte – auch wenn er ungewollt mit meinem Mageninhalt vertraut gemacht wurde. Der Gedanke daran ließ mich erröten. Vermutlich würden mich alle als 'das Kotze-Mädchen' in Erinnerung behalten.

"Scarlett", entgegnete ich und nahm seine Hand entgegen, auf der ebenfalls ein paar Sommersprossen auszumachen waren.

Da ertönte auf einmal ein lautes Pfeifen, das in meinem Kopf widerhallte und Schwindelgefühle verursachte. Alvin drehte sich nach dessen Quelle um und verdrehte nur genervt die Augen.

"Kein Körperkontakt unter Patienten!", urteilte ein beleibter Mittfünfziger, während er sich auf dem Weg zum Büro befand und uns dabei betont streng musterte.

Sein ergrauender Ziegenbart zitterte dabei erregt und die gesamte Erscheinung des Mannes bereitete mir ein unangenehmes Bauchgefühl. Er erinnerte mich an meinen Großvater. Die grauen Haare, die ständig angehobenen Augenbrauen und der schwerfällige Gang erweckten eine Angst, von der ich geglaubt hatte, sie unterdrücken zu können.

"Das ist Chester. Er wird zwar nicht handgreiflich oder so, ist aber ein ziemliches Arschloch", flüsterte Alvin mir zu und musterte mich besorgt.

War ich so ein offenes Buch?

"Er hat eine komische Ausstrahlung", stellte ich fest und versuchte, mich wieder auf meine Zeichnung zu konzentrieren.

Mittlerweile hatten die ungeplanten Striche Gestalt angenommen und deuteten ein Blumenbeet an. Im Hintergrund stand ein Gartenhäuschen, dessen Dach und Außenwand mit Efeu bewachsen waren. Dank meiner künstlerischen Fähigkeiten sah das Gewächs zwar aus wie Dreck, aber so sehr ich auch versuchte, die Linien zu verfeinern, wollte es mir nicht gelingen, es realistisch aussehen zu lassen. Mein Bleistift war stumpf geworden.

"Finde ich auch. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte die Gedanken solcher Menschen lesen, um zu wissen, was in ihren Köpfen vor sich geht", stimmte mein Sitznachbar zu und nickte. "Warum arbeitet er in einer psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche? Ist das seine Leidenschaft? Sieht für mich nicht so aus." Sein Blick konzentrierte sich auf meine kläglichen Versuche, meine Striche feiner zu ziehen. "Ich würde dir ja den Anspitzer geben, aber–"

Ich nickte verstehend. Wir wussten beide, wovon er sprach.

Chester hatte sich mittlerweile im mit bunten Kissen und Decken gepolsterten Sitzbereich des Betreuerbüros fallengelassen und ein Gespräch mit Esther begonnen, die nur widerwillige Antworten gab. Anscheinend war er auch unter Kollegen nicht sonderlich beliebt. Irgendwie gab mir das ein Gefühl der Genugtuung, auch wenn ich es mir nicht erklären konnte. Alvin hatte Recht gehabt: Er wirkte wirklich wie ein Arschloch.

Die nächsten vier Stunden verbrachten wir damit, an unseren Zeichnungen zu sitzen, miteinander zu reden und für eine kurze Unterbrechung ein unbeschreiblich grässliches Mittagessen zu uns zu nehmen. Alvins Behauptung, Zeichnen sei meditativ, bewahrheitete sich auch für mich, denn die Zeit ging so schnell vorüber, dass ich sie erst bemerkte, als das Papier in der beginnenden Nachmittagsdämmerung nur noch mit Mühe auszumachen war und die gelblichen Kliniklampen angeschaltet wurden. Während Alvin in der Zwischenzeit diverse Zeichnungen von Händen, Körpern und Stillleben angefertigt hatte, die auch noch allesamt technischer Perfektion nahekamen, steckte ich noch immer bei meiner Gartenzeichnung fest und bemühte mich, meine ungelenken Bleistiftpflanzen so echt wie möglich aussehen zu lassen. Es wollte noch nicht so wirklich funktionieren, doch ich war mir sicher, in den nächsten Wochen und Monaten genügend Zeit zum Lernen zu haben, denn sonstige Freizeitaktivitäten, die mich interessierten, schien es nicht zu geben. Stattdessen begab ich mich in eine Welt aus Papier, HB-Bleistiften und Anfängerfehlern.

"Alvin?"

Mein Mund handelte schneller als mein Verstand.

"Ja?"

Er hatte seine Arbeit an einer abstrakten Zeichnung unterbrochen und sah nun wieder mich an. Mein Rachen fühlte sich trocken an und ich rang nach Worten.

"Naja... Danke, dass du mir den Platz angeboten hast. Das war sehr nett, obwohl ich nach meinem Willkommensgruß wie ein totaler Freak gewirkt haben muss", brachte ich heraus und warf einen Blick auf die anderen Patienten, die sich teils leise miteinander unterhielten und nichts von unserem Gespräch mitbekamen. "Ich wusste nicht ganz, was ich hier ... hätte erwarten sollen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, als Gestörte abgestempelt zu werden und die ersten Tage ausschließlich in meinem Bett zu verbringen."

Alvins Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, das seine Grübchen offenbarte, und er konnte nicht anders, als einmal laut aufzulachen. Schon lag die Aufmerksamkeit der gesamten Station auf uns und ich wäre am liebsten im Boden versunken, wobei ich gleichzeitig das Bedürfnis verspürte, mit dem rothaarigen Jungen neben mir zu lachen, der so herrlich extrovertiert und gleichsam undurchdringlich wirkte.

"Aber Scarlett!", rief er ungeniert. "Wir sind doch alle gestört."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt