Kapitel 8

5.1K 559 127
                                    

»Ich bitte um Ruhe und wir können in Evelyns Richtung aufstehen.«

Daraufhin quietschende Geräusche und das Klappern von Geschirr. Endlich war das Abendessen vorbei und ich hätte wieder Zeit für mich, denn die Gespräche am Tisch und vereinzelt auftauchende Lacher fühlten sich fremd an.

Ich gehöre nicht zu diesen Menschen, dachte ich immer und immer wieder, während ich mich auf die kleinen Brotkrumen, die auf dem graublauen Boden lagen, konzentrierte.

Eins, zwei, drei...

Ich zählte weiter, immer noch auf die Brotkrümel konzentriert, als mich jemand an meiner Schulter berührte. Ein elektrischer Schock durchfuhr meinen Körper und mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann umso schneller weiter zu pumpen. Ruckartig drehte ich mich nach rechts und sah in Sams Augen. Sie stand direkt vor mir, unsicher lächelnd, was aufgrund ihres vorherigen Auftretens ungewöhnlich auf mich wirkte, und nahm mein unbenutztes Geschirr in die Hand.

»Ich kann das für dich nehmen, wenn es für dich in Ordnung ist«, sagte sie mit einem fragenden Unterton, woraufhin ich einfach wortlos nickte. Das Mädchen drehte sich um, nachdem sie mir noch einmal ermutigend zugelächelt hatte, und ging schließlich in die Küche.

Immer noch sprachlos über die Freundlichkeit, die Sam mir entgegengebracht hatte, stand ich von meinem Stuhl auf und ging in mein Zimmer. Mein Magen knurrte ungeduldig, und obwohl ich mich vor Hunger fast übergeben musste, wusste ich, dass es nur noch schlimmer werden würde, wenn ich etwas zu mir nähme.

Zusammengekrümmt und mit beiden Händen auf meinem rumorenden Bauch ließ ich mich auf mein Bett fallen und starrte an die Decke. Vor meiner Zimmertür hörte ich die anderen Patienten miteinander reden und sich bettfertig machen, doch nach einiger Zeit wurde es ruhiger. Genau wusste ich es aber nicht, denn ich hatte schon seit langer Zeit jegliches Zeitgefühl verloren.

Ich trieb einfach mit im Fluss des Lebens, ohne die Kraft aufwenden zu können, die ich bräuchte, um mich über Wasser zu halten.

Meine Augenlider wurden schwerer, doch als ich sie gerade vollends schließen wollte, klopfte es plötzlich an meiner Tür. Oder war es die eines Zimmernachbarn? Die Wände hier waren unglaublich dünn.

Meine Vermutung wurde dementiert, als meine Zimmertür von einem mir unbekannten Mann geöffnet wurde. Er war breit gebaut und hatte lange, dunkelblonde Haare, trug dunkle Kleidung und bedachte mich mit einem mitfühlenden Lächeln, während er sich zu mir runter beugte.

Ich schreckte aus meiner verletzbaren Position. Wer war das?

»Hallo Scarlett, ich bin Herr Olsen und ich übernehme die Nachtwache auf dieser und der gegenüberliegende Station. Ich habe gehört, dass du heute Abend nichts gegessen hast und da dachte ich mir, dass du aufgrund deiner ... sagen wir, Ängste, vielleicht jetzt etwas zu dir nehmen möchtest. Alle anderen sind auf ihren Zimmern, also musst du keine Angst vor zu viel Gesellschaft haben. Nur ich werde da sein, wäre das für dich in Ordnung?«

»Ich habe keinen Hunger.«

In genau diesem Moment knurrte mein Magen so laut, dass die anderen Patienten auf dieser Station mit Sicherheit zuhören konnten. Herr Olsen schaute mich einfach an und lächelte mir weiterhin zu, doch jetzt lag in seinen Augen ein Anflug von Schalk. »Das glaube ich dir irgendwie nicht so ganz.« Schwungvoll richtete er sich auf und dehnte seine Muskeln, bevor er mich ermutigend ansah und schließlich im Gruppenraum verschwand. Unschlüssig verweilte ich noch ein paar Sekunden auf meinem Bett, dann fasste ich mich aber wieder und ging dem Betreuer langsam hinterher. Mein Kreislauf machte mal wieder schlapp und ich musste öfter zum Luft holen stehen bleiben, als mir lieb war.

Aus der Küche drangen leise Geräusche zu mir, also vermutete ich, dass Herr Olsen schon mein Abendessen vorbereitete, doch bei der Küche angekommen blieb ich auf der Türschwelle stehen; unsicher, ob ich eintreten durfte oder nicht. Die umfangreichen Regeln dieses Komplexes waren mir noch unbekannt und ich wollte keine Fehler machen, die mich unangenehm auffallen ließen.

Doch meine Bedenken wurden mir von Herrn Olsen genommen, der gerade fröhlich pfeifend Gemüse schnitt und mich über die Schulter hinweg ansah.

»Du kannst ruhig reinkommen, keine falsche Scheu«, sagte er mit unterdrückter Stimme, um die Nachtruhe der anderen nicht zu stören, und deutete auf einen kleinen Stuhl neben sich.

Die Wände des Raums waren in sanften Blautönen gehalten, doch durch das Licht der altmodisch geformten Lampen, die mit ihrem gelblichen Schein die Küche erhellten, wirkte die gesamte Kulisse unecht und weichgezeichnet. In jeder denkbaren Ecke war ein Regal oder eine Ablage, welches je mit Lebensmitteln, Tellern, Bechern oder ähnlichem vollgestellt war, sodass man das Gefühl bekam, dass alles zusammenfallen würde, sobald man nur einen Löffel aus einer Schublade nahm. Alles in Allem wirkte es ein wenig wie ein Tante-Emma-Laden aus den Siebzigern, doch ich mochte es. In großen, offenen Räumen fühlte ich mich unwohl und verletzlich, geradezu ausgeliefert an eine Rivalin, die viele Gesichter hatte: Die Angst.

Das Rückenpolster des Stuhls schmiegte sich wohlfühlend an meinen Rücken und ich ging in Gedanken immer wieder meine verschiedenen Gedankenspiele durch, die ich zur Beruhigung benötigte.

Immer wieder ging ich es durch, bis ich fast schon in eine Art Trance verfiel.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Ich verabscheute meine Mutter. Nie wieder würde ich sie lieben können, egal wie sehr sie es auch versuchen würde. Nie wieder.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Diese Klinik ist grauenhaft. Ich muss hier weg. Sofort.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Was, wenn ich einfach in der Nacht ausbräche? Wie lange würde die Nachtwache brauchen, um mein Verschwinden zu bemerken? Hätte ich genug Zeit, um vom Gelände zu kommen? Ich wusste ja nicht einmal, wo der Ausgang zur Straße war.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Schon jetzt fürchtete ich mich vor der Nacht, die mir noch bevorstand. Das Mädchen würde mich wieder besuchen.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Ha-

»Magst du Käse?«

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt