Kapitel 7

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Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, penibel darauf bedacht, nicht umzufallen, da meine Knie gefährlich stark zitterten. Noch immer wurde ich von allen Patienten argwöhnisch betrachtet, doch ich versuchte, sie schlichtweg zu ignorieren und kam nach ein paar unangenehmen Augenblicken endlich bei dem mir zugewiesenen Stuhl an.

Darauf bedacht, nur nicht zu viele Geräusche von mir zu geben, ließ ich mich nieder und starrte noch immer auf den graublauen Boden. Hier und da waren ein paar nicht identifizierbare Flecken, über deren Herkunft ich aufgrund meiner schon bestehenden Übelkeit vorerst nicht weiter nachdenken wollte.

Vollkommen versunken in der Hypnose, die meine eigenen Gedanken für mich darstellten, bemerkte ich gar nicht, dass sich wieder alle Augenpaare auf mich gerichtet hatten und mich beobachteten. Oder hatten sie nie damit aufgehört?

»Möchtest du dich vorstellen«, fragte mich Herr Perkins ermutigend von der Seite. Er hatte sich einen zusätzlichen Stuhl aus dem Büro genommen und sich ausgerechnet neben mich gesetzt. Und das auch noch viel zu nah nach meinem Geschmack.

»Scarlett«, murmelte ich durch den Vorhang an Haaren, der vor meinem Gesicht hing. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal richtigen Augenkontakt zu Gleichaltrigen gehabt hatte, und ich hatte mit Sicherheit nicht vor, mein bisheriges Verhalten in diesem unangenehmen Moment zu ändern.

»Hä? Ich verstehe sie nicht«, tönte es von der mir gegenüberliegenden Seite des Tisches. Vorsichtig spähte ich durch meinen Haarvorhang und sah in das runde Gesicht eines schlanken Jungens, der auf jeden Fall jünger war als ich.

»Mein Gott, Ozzy, du brauchst wirklich ein Hörgerät. Ihr Name ist Scarlett, du taube Nuss.«

Überrumpelt von der Ruppigkeit dieser Worte suchte ich nach ihrem Ursprung, den ich bei einem Mädchen meines Alters fand, das gerade ihre verrutschte braune Kurzhaarfrisur richtete. Währenddessen tippte sie ungeduldig an den Rand ihres Tellers und starrte die anderen in der Runde auffordernd an.

»Nun gut, da keiner anfangen möchte, tue ich es jetzt einfach«, begann sie dermaßen laut zu sprechen, dass ich kurz zusammenfuhr, doch ich fing mich einigermaßen schnell wieder.

Sie wollen dir hier alle nichts Böses tun.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Das Mädchen drehte sich zu mir und lächelte mich breit an. »Ich bin Sam.«

»Samantha«, wurde sie von Frau Foxworth ergänzt. Diese Frau war mir jetzt schon unsympathisch.

Sam sah sie kurz genervt an, als ob das nicht ihre erste Meinungsverschiedenheit über dieses Thema wäre, doch dann wandte sie sich wieder mir zu.

»Wie ich schon sagte, bevor ich unterbrochen wurde«, sagte sie und schenkte der Betreuerin ein sarkastisches Lächeln, »heiße ich Sam. Ohne das ›antha‹, ich bin ja noch nicht fünfzig. Genauer gesagt bin ich sogar erst siebzehn. Ich kam vor genau vier Wochen hier in die Klinik und anfangs ging es mir auch nicht so gut, aber mittlerweile habe ich mich einigermaßen gefangen. Die Gruppe hier ist auch super, also keine Sorge, wir werden dich nicht beißen. Außer wenn ich Hunger habe.«

»Samantha, lass den Quatsch!«

Doch die lächelte mich nur weiterhin an, zwinkerte mir verschwörerisch zu und beendete schließlich ihre Vorstellung. »Ich gebe weiter.«

Das schien eine Art offizielle Aufforderung an ihre Sitznachbarin zu sein, denn die begann daraufhin zu sprechen. So ging es immer weiter um den Tisch, bis sich alle kurz vorgestellt hatten.

Da war zum Beispiel Evelyn, ein wie ich sechzehnjähriges Mädchen mit hellbraunem Longbob und einem niedlichen Gesicht, die mich schüchtern, aber nett anlächelte. Sie schien ganz in Ordnung zu sein.

Evelyns Sitznachbarin hieß Fay, eine zierliche und kleine Vierzehnjährige, die durch ihre hellblonden Haare und elfenhaften Gesichtszüge tatsächlich ihrem Namen entsprechend einer Fee glich. Ihre Stimme war hell und auch sonst wirkte sie so lichtdurchflutet, dass ich mir schwer vorstellen konnte, was sie an diesen Ort gebracht hatte.

Nach den beiden stellte sich Rose vor, die sechzehn Jahre alt war und durch ihre dunkelbraunen Haare sowie mindestens genauso dunklen Augen deutlich unnahbarer als die anderen Mädchen wirkte, sich allerdings als recht freundlich entpuppte. Sie war erst seit einer halben Woche hier und wirkte, als ob sie sich noch nicht so wirklich in die Gruppe eingefunden hätte, was ich in meiner aktuellen Situation nur allzu gut nachvollziehen konnte.

Ich fühlte mich wie ein Fremdkörper.

Bei Osborn, dessen Spitznamen Ozzy ich durch sein ausfallendes Verhalten schon von eben kannte, und Garrett, einem ruhigen Siebzehnjährigen mit dunkelblondem Haar, fiel es mir schon schwerer, aufmerksam zuzuhören. Es waren so viele Menschen; so viele Gesichter und Namen, die ich mir merken musste. Ich bekam Angst vor dem Moment, in dem ich vielleicht einen Namen vergessen und die betreffende Person sich wegen mir schlecht fühlen würde.

Zuletzt war ein dunkelhaariger Junge an der Reihe, sich vorzustellen. Er sprach sehr leise und zögerte seine Worte hinaus, als ob ihm das Bevorstehende peinlich wäre.

»Ich bin ... Arlene. Fünfzehn Jahre alt.«

Oh, Arlene war ein Mädchen?

Nach ihren Worten drehte sie hastig ihren Kopf von mir weg und ich begann, sie zu verstehen. Sie wirkte nicht, als ob sie sich mit ihrem Namen sonderlich wohl fühlte; außerdem trug sie Kleidungsstücke, die man sonst eher an Männern vorfand und ihr außerdem viel zu groß waren.

Doch die anderen um uns herum schienen ihr Unbehagen nicht zu bemerken, denn sie schenkten Arlene keine weitere Aufmerksamkeit.

»Ich bitte um Ruhe und wir können anfangen.«

Nachdem Fay den Tischspruch sagte und die Gruppe sich ihrem Essen zuwandte, bekam ich von dem schrillen Geschirrgeklapper und murmelnden Tischgesprächen nicht mehr viel mit.

»Du solltest auch etwas essen, Scarlett«, sprach mich Herr Perkins wieder von der Seite an, als die anderen mir gerade keine neugierigen Blicke mehr zuwarfen. »Ich weiß, aller Anfang ist schwer, aber mit einem vollen Magen geht es einem doch gleich schon viel besser«

»Keinen Hunger.«

Das stimmte jedoch nicht ganz. Mein Magen knurrte unaufhörlich, was den anderen durch die laute Geräuschkulisse glücklicherweise nicht aufzufallen schien, doch ich hatte tatsächlich keinen Appetit. Jeder Atemzug, mit dem ich den Geruch von Essen in mich aufnahm, gab mir ein immer größer werdendes Gefühl von Übelkeit.

Herr Perkins musterte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Sicher? Falls du doch noch Appetit bekommst, sag es einfach, in Ordnung? Mit knurrendem Magen kann man auf keinen Fall einschlafen.«

Das hatte ich in der Vergangenheit oft genug gemacht, doch dieses Detail ließ ich ihn nicht wissen, denn er wirkte wie eine Übermutter, die sich über solche Kleinigkeiten nur unnötig aufregen würde.

Das Abendessen verging, und mein Sichtfeld wurde immer dämmriger.

Ausatmen. Halten. Einatmen. Halten.

Es war einfach zu viel. Ich wollte zurück in mein Zuhause, in mein Zimmer, in mein Bett.

Doch das würde mir verwehrt bleiben, egal wie sehr ich darum bäte. Mir standen noch Monate in diesem Gebäude bevor, und je mehr ich daran dachte, desto hoffnungsloser wurde ich.

Wie hatten die Therapeuten dieses Mal vor, mir zu helfen? War das hier ihr Plan? Mich mit anderen Jugendlichen zusammenzusperren und zu hoffen, dass sich irgendetwas in mir regen wird?

›Wir wollen dir nur helfen.‹ Dass ich nicht lachte.

Am ehesten wäre mir geholfen, wenn man mich einfach in Ruhe ließe.

Für immer.

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