Kapitel 43

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Die nächste Stunde half mir mehr als jeder Dialog mit meinem Eltern und jeder Therapietermin, den ich in meiner Kliniklaufbahn absolvieren musste. Da saßen wir, Herr Olsen und ich, und sprachen vollkommen ungezwungen über meine Probleme. Es war ungewohnt für mich, in einem Erwachsenen einen vertrauensvollen Ansprechpartner, der mich tatsächlich verstand, zu finden, doch genau das stellte Herr Olsen für mich da. Seine grünen Augen funkelten mich immer wieder schelmisch an und nahmen mir somit die sonst so verkrampfte Nervosität, die ich bei Gesprächen über meine Probleme üblicherweise an den Tag legte.

So kam es, dass ich ihm fast alles aus meiner Vergangenheit und Gegenwart erzählte, nur meinen Großvater und die Rolle, die er trotz seines Todes immer noch in meinem Leben spielte, ließ ich außen vor. Dafür kannte ich meinen Betreuer einfach nicht gut genug und außerdem traute ich der ganzen Situation noch nicht komplett. Wieso sollte sich ab nun alles zum Besseren wenden? Was wäre, wenn Herr Olsen das nur seines Berufes wegen tat und eigentlich keinerlei Interesse an mir hatte, sondern in mir nur eine weitere Patienten in dem ewigen Strom an psychisch Gestörten sah? Irgendwann wurde mir jedoch bewusst, dass es nicht er war, an dem ich zweifelte – es war ich selbst, der ich nicht traute. Sicherlich würde ich bald etwas anstellen, um meine innere Ruhe wieder ins Wanken zu bringen.

"Wollen wir wieder zurückgehen?"

Verwirrt blickte ich von den durch den Wind zitternden Grashalmen auf und blickte in Herr Olsens Gesicht, das meinen Blick fragend, aber dennoch lächelnd und freundlich erwiderte.

"Ja", sagte ich in für mich ungewöhnlich festem Ton und griff suchend nach einer stabilen Ranke, an der ich mich vorsichtig hochzog, damit ich nicht augenblicklich von meinem schwachen Kreislauf übermannt werden und wieder zusammenbrechen würde.

"Vorsichtig, immer langsam", mahnte Herr Olsen mich, der sah, wie ich innerlich mit mir rang, um auf den Beinen zu bleiben.

Nachdem ich mich wieder einigermaßen gesammelt hatte, machten er und ich uns auf den Rückweg. Immer wieder musste ich darüber nachdenken, wie skurril wir beide nebeneinander aussehen mussten.

Er war braungebrannt und sportlich.

Ich hingegen perlweiß und kränklich dünn.

Er bewegte sich selbstbewusst und sicher.

Ich hingegen ersuchte mir mühsam meinen Weg.

Er trug fast durchgehend ein fröhliches Lächeln auf seinem Gesicht.

Ich hingegen nicht.

Nicht.

Wieder wurde ich von Gefühlen überwältigt, die ich nie erwartet hatte. Nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich merkte man mir an, dass ich anders war.

Dass ich krank war.

Dass ich hilflos war.

Dass ich allein war.

"Alles in Ordnung, Scarlett? Soll ich dich stützen? Du wirkst, als machst du gleich einen unfreiwilligen Kopfsprung auf den Asphalt."

Erst Herr Olsens Aufmunterungsversuch holte mich wieder in der Realität zurück, in der ich die vergangenen Minuten mechanisch und ohne ein Wort zu verlieren vor mich hin getrottet war. Jetzt jedoch blieb ich taumelnd stehen und streckte meine Arme blind nach meinem Betreuer aus, der sie sofort ergriff und mir erlaubte, sich an ihn zu lehnen, um auch die letzten Meter bis zur Stationstür hinter mich zu bringen. Als ich endlich die Hitze hinter mir lassen und dank Herr Olsens Hilfe in mein kühles Zimmer gelangte, konnte ich wieder etwas klarer denken.

"Dankeschön", flüsterte ich außer Atem, während mein Betreuer mich angestrengt zu meinem Bett bugsierte, dessen dünne Bettlacken und knarrendes Gestell nun wie ein Paradies auf mich wirkten.

"Das ist doch kein Problem, mach dir da mal keine Gedanken", murmelte er beschäftigt und hantierte angestrengt mit meinem Kopfkissen, da er es mir so bequem wie möglich machen wollte.

"Nein wirklich, das ist nicht selbstverstä-", ein Hustenschwall unterbrach mich und Herr Olsen musterte mich nun mehr als besorgt.

"Sag mal, wirst du krank?"

Stumm zuckte ich mit den Schultern. Ich wusste es nicht, hatte ich mich in den letzten Tagen schwächer als sonst gefühlt? Mittlerweile fiel es mir immer schwerer, psychischen von physischem Schmerz zu unterscheiden, sodass ich Herr Olsen keine Antwort auf seine Frage geben konnte. Dieser beobachtete mich immer noch voller Argwohn und wirkte immer beunruhigter.

"Soll ich einen Arzt holen?"

Hektisch schüttelte ich den Kopf, wobei meine Umgebung vor mir verschwamm und ich ein Pochen spürte. Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte ich nun eindeutig. Mit dieser Erkenntnis kam auch die Übelkeit, die mir den Hals zuschnürte und meinen Blick vernebelte. Überall in meinem Sichtfeld tauchten dunkle Flecken auf. Es war, als säße ich am Fuße eines gefüllten Wasserglases, in das Tropfen mit Tinte gekleckst wurden, die nun auf der Oberfläche schwammen.

"Hilfe."

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt