Kapitel 6

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»Scarlett.«

»Scarlett.«

»Scarlett.«

Nein! Nein, nicht schon wieder! Bitte nicht!

Doch meinen Bitten wurde keine Folge geleistet, denn die Stimme hörte nicht auf, mich zu verschrecken und zu terrorisieren.

Und da saß sie, die Arme um ihre bis an die Brust gezogenen Beine geschlungen, und starrte mich an.

Sie besuchte mich täglich. Und das seit Monaten.

Ich versuchte erst gar nicht, mit ihr zu reden, denn ich wusste, sie würde nicht antworten. Das tat sie nie.

Sie war ein kleines, heruntergehungertes Mädchen, deren große, glänzende Augen aus ihren Höhlen zu fallen drohten; mit hageren Gliedmaßen, bei denen sich die blasse Haut um ihre Knochen spannte. Doch das schlimmste an ihr war nicht sie selbst, sondern das Blut, das sie bedeckte. Es schien überall zu sein, in ihren Haaren bis zu ihren zusammengezogenen kleinen Füßen, die sich in den Fußboden zu graben versuchten.

»Scarlett.«

Sie bewegte ihren Mund nicht, auch sonst spürte man kaum ein Lebenszeichen von ihr, doch ich wusste, dass es ihre Stimme war. Ich wusste es einfach.

»Lass mich in Frieden.« Sie würde nicht auf mich hören. »Bitte. Ich will dich nicht mehr sehen oder hören oder sonst irgendetwas mit dir zu tun haben. Hier in der Klinik-«, ich stockte, da die Tränen drohten, die Überhand zu gewinnen, doch ich fuhr schluchzend weiter, »Bitte, hör einfach auf. Hör auf. Hör au-«

»Scarlett.«

»Hör auf!«, schrie ich heiser und mit brechender Stimme, doch etwas fühlte sich anders an. Statt der dumpfen Leere, die mich zuvor umgab, fühlte ich nun mehrere Arme auf mir, die versuchten, mich an meinen Gliedmaßen festzuhalten, während ich nichts sah und nur Schemen erkannte.

»Hey, hörst du mir jetzt zu? Scarlett?« Bei der Erwähnung meines Namens zuckte ich zusammen, schmerzvoll erinnert an meine noch unverarbeitete Erfahrung von gerade eben.

»Ja, ich höre zu.« Ich versuchte, möglichst entspannt zu wirken, damit sich die Hände endlich von meinem Körper entfernten. Zu viel direkter Hautkontakt bereitete mir Angst.

Mein Plan funktionierte. Endlich ließ man mich los und ich hatte das Gefühl, nach langer Zeit wieder durchatmen zu können, obwohl mein Herz noch immer viel zu schnell schlug und ich die Vibrationen dadurch am gesamten Körper fühlen konnte. Mein Blick richtete sich auf Herr Perkins, der mit geweiteten Augen und irritiertem Blick auf mich hinabsah.

»Gut. Ähm... Das, was hier gerade passiert ist, solltest du wohl lieber nicht mit mir, sondern Frau Hendel besprechen. Ich werde ihr davon erzählen. Aber, bitte, mach dir keine Sorgen«, fügte er schnell hinzu, als er meine Reaktion auf seine Worte sah, »du wirst keinen Ärger bekommen. So etwas gehört nun einmal zu deiner Krankheit, deshalb bist du ja hier. Deine Therapeutin braucht diese Information, um dir so gut es geht helfen zu können.«

Da war es wieder, das typische ›Alles-wird-gut-wir-wollen-dir-nur-helfen‹-Gerede. Bevor Herr Perkins damit noch fortfahren konnte, schaltete ich mich einfach schnell wieder ein, wobei mir meine schnappartige Atmung allerdings noch immer Probleme bereitete.

»Ist schon gut. Wieso sind sie denn in mein Zimmer gekommen?«

»Nun ja«, fing der Betreuer an, während er sich seine Brille in Gedanken höher auf den Nasenrücken schob, »in fünf Minuten gibt es Abendessen, wie immer um sechs Uhr abends. Eigentlich hättest du mehr Zeit haben müssen, um dich vorzubereiten, aber das habe ich leider verpennt. Tut mir ehrlich Leid, Scarlett, aber vielleicht hat dir der zusätzliche Schlaf ja auch gut getan?«

Der letzte Satz klang eher wie eine Frage als eine Aussage, und wenn ich diese beantworten müsste, läute die Antwort auf jeden Fall Nein. Mit einem Schaudern und Gänsehaut, die sich über mein Rückgrat bis auf meinen gesamten Körper ausbreitete, dachte ich zurück an meinen Albtraum, doch diese grauenhaften Gedanken schob ich schnell wieder zurück und versuchte, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Leichter gesagt als getan.

»Also, was hältst du davon, wenn wir jetzt zusammen in den Gruppenraum gehen, uns an den Tisch setzen und dich den anderen vorstellen?«

Nein. Auf gar keinen Fall.

»Ich– Ich weiß nicht so ganz«, stammelte ich unbeholfen, während ich in meinem Kopf verzweifelt nach einer vertretbaren Ausrede suchte, die mich aus dieser Situation retten würde. Doch mir fiel nichts ein. In mir herrschte absolute kreative und auch sonstige emotionale Leere. Da ich mir nicht mehr zu helfen wusste und auch nicht zwanghaft zum Essenstisch gezogen werden wollte, murmelte ich nur ein schwaches »Okay« und folgte dem gedrungenen Betreuer aus dem Zimmer. Noch ein letztes Mal guckte ich wehmütig zurück in die Höhle, in der ich die letzten Stunden verbracht hatte, dann schaltete ich mit einem Ruck das Licht aus.

Die sommerliche Abenddämmerung tauchte den Gruppenraum, den ich bis zu diesem Zeitpunkt nur einmal bei meiner Ankunft sehr spärlich in Augenschein genommen hatte, in einen orangenen Schein, der ihm fast schon eine gewisse Gemütlichkeit verliehen hätte, wären da nicht die sieben Augenpaare, die sich abwartend am anderen Ende des Raumes um den langen Tisch versammelt hatten und mich neugierig anschauten.

Ich schluckte nervös, während ich das Gefühl hatte, mir würde alles, was ich in den vergangenen 24 Stunden zu mir genommen hatte, wieder hochkommen. So eindrucksvoll wäre das allerdings nicht gewesen, da ich, soweit ich mich erinnern konnte, vor Aufregung wegen meiner Einweisung nichts essen konnte. Um mich von meinen Gedanken an Erbrochenes und Galle abzubringen und mich wieder auf meine aktuelle Situation zu konzentrieren, analysierte ich die feine Maserung des Bodens. Er glänzte und sah fast schon aus, aus wäre er mit Zuckerguss überzogen. Ein blässliches Graublau, nicht gerade ansehnlich.

»So Leute. Das hier ist Scarlett«, begann Herr Perkins mich vorzustellen. »Du kannst dich erst einmal auf meinen Platz setzen, bis die neue Sitzordnung geklärt ist, okay?«

Die Stille lag wie eine schwere Decke über dem Raum.

Ich will hier weg. Sofort.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt